Das Vermeiden der Leere

Von David R. Loy

Das Vermeiden der Leere: Der Mangel eines Selbst in Psychotherapie und Buddhismus.

Deutsche Übersetzung von:

Avoiding the Void: The Lack of Self in Psychotherapy and Buddhism.

The Journal of Transpersonal Psychology, 1992, Vol. 24, No. 2.

David R. Loy
Faculty of International Studies
Bunkyo University Chigasaki, Japan

© Copyright: 1992, David Loy & The Journal of Transpersonal Psychology,
© Copyright deutsche Übersetzung: 2001, M. B. Schiekel, D-83569 Vogtareuth, D-89073 Ulm.

Quelle: mb-schiekel.de/loy8d.htm

David Loy hat lange als Professor für Philosophie an der Fakultät für Internationale Studien der Bunkyo Universität in Chigasaki, Japan, gelehrt und unterrichtet (bis Januar 2006) und forscht jetzt am Besl Family Chair for Ethics/Religion and Society der Xavier University, Cincinnati, USA.

Zitierweise / cite as:

Loy, D. R. <1947- >: Das Vermeiden der Leere:
Der Mangel eines Selbst in Psychotherapie und Buddhismus.
Version 1.00h vom 26.06.2001.

URL:
mb-schiekel.de/loy8d.htm
. -- [Stichwort].

Die Originalübersetzung und -Veröffentlichung (s. Link) erfolgte auf Anregung von Prof. R. Brunner von der Gerhard Mercator Universität Gesamthochschule Duisburg und mit dem freundlichen Einverständnis von Prof. David Loy und The Journal of Transpersonal Psychology.

Der Text steht der Allgemeinheit zur Verfügung. Eine Verwertung in Publikationen, die über übliche Zitate hinausgeht, bedarf der ausdrücklichen Genehmigung von Prof. David Loy, The Journal of Transpersonal Psychology und Übersetzer.

Weitere Publikationen von Prof. David Loy, siehe: Bibliographie zu David Loy.


Wenn Menschen aus nicht-medizinischen Gründen Drogen nehmen, dann nicht nur deswegen, um Schmerzen zu betäuben oder Vergnügen zu steigern oder verzerrte Wahrnehmungen hervorzurufen. Drogen sind eine Waffe gegen die Leere. In seinem Buch über Opium schrieb Jean Cocteau, daß jede menschliche Aktivität "in einem Expreßzug stattfindet, der dem Tod entgegenrast". Drogen zu nehmen, so sagt er, ist der Versuch aus diesem Zug heraus zukommen. Die machtvolle Illusion, die Drogen vermitteln, wird dann gesucht, wenn die alltäglicheren Illusionen versagen und insbesondere dann, wenn das Leben nicht mehr zu sein scheint als die Verbindung zwischen Geburt und Tod.
[Luc Sante, The New York Review of Books, 16. Juli 1992]

Santes Argument bietet einen willkommenen Ausgleich gegen all das Moralisieren beim "Krieg den Drogen". Es legt außerdem nahe, daß wenn wir das Drogenproblem (was zuallererst natürlich ein Alkoholproblem ist) ernsthaft angehen wollen, wir dann nicht nur betrachten sollten, wie wir versuchen zu fliehen, sondern auch warum wir vor der Leere davonlaufen.

Cocteau sieht als Kern unseres Problems den Tod. Dieses Verständnis ist in Übereinstimmung mit vielen der besten neueren Arbeiten der Psychotherapie. Existentialistische Psychologen, wie Ernest Becker und Irvin Yalom, glauben, daß unsere primäre Verdrängung nicht die sexuellen Wünsche betrifft, wie Freud das angenommen hatte, sondern die Einsicht, daß wir sterben werden (Becker, 1973, 1975; Yalom, 1980). Diese hier vorgelegte Arbeit möchte allerdings eine Interpretation des Buddhismus anbieten, die eine subtile, aber doch bedeutsame Unterscheidung zwischen der Angst vor dem Tod und der Furcht vor der Leere aufzeigt: unser größtes Problem ist nicht der Tod, denn diese Angst hält die gefürchtete Sache immer noch auf Distanz, indem sie sie in die Zukunft projiziert -unser größtes Problem ist der unmittelbarere und beängstigende (da ja ziemlich berechtigte) Verdacht, daß nämlich "Ich" jetzt gar nicht wirklich bin.

Sakyamuni Buddha benutzte keine psychoanalytischen Begriffe, aber wenn wir jetzt versuchen, die buddhistische These von anatman, von der Ablehnung eines Selbst, zu verstehen, so können wir Nutzen ziehen aus dem Konzept der Verdrängung und der Rückkehr des Verdrängten in symbolischer Form. Wenn irgendetwas (ein mentaler Wunsch, gemäß Freud) dazu führt, daß ich mich unbehaglich fühle, und ich damit nicht bewußt umgehen will, dann kann ich wählen, dies zu ignorieren oder zu "vergessen". Das erlaubt mir, mich auf etwas anderes zu konzentrieren, dennoch tendiert das Verdrängte dazu, in das Bewußtsein zurückzukehren. Was nicht bewußt in das Gewahrsein hereingelassen wird, bricht auf obsessiven Wegen hervor - in Form von Symptomen, die das Bewußtsein mit eben jenen Qualitäten beeinflussen, die es sich bemüht auszuschließen. Was könnte nun aus dieser Einsicht für anatman folgen?

Der Buddhismus führt in seiner Analyse das Selbst-Gefühl zurück auf Gruppen von unpersönlichen mentalen und physischen Phänomenen, deren Wechselwirkung die Illusion von Selbst-Bewußtsein kreiert, d.h. die Illusion, daß das Bewußtsein ein Attribut eines Selbst sei. Die Verdrängung des Todes, auf welche uns die existentialistische Psychologie hinweist, verwandelt den Ödipus-Komplex in das, was Norman Brown (1961) das Ödipus-Projekt nennt: der Versuch, sein eigener Vater, sein eigener Ursprung zu werden. Das Kind will den Tod besiegen, indem es versucht zum Schöpfer und Erhalter seines eigenen Lebens zu werden. Der Buddhismus stimmt dem zu, verschiebt aber die Betonung: das Ödipus-Projekt ist eher der Versuch des sich entwickelnden Selbst-Gefühls Autonomie zu erlangen, im Sinne von Descartes´ angeblich selbstständigem Bewußtsein. Es ist das Streben, die eigene Grundlosigkeit zu leugnen, indem man zu seinem eigenen Grund wird: zu jenem Grund (der sozial konditioniert und aufrechterhalten wird, aber dennoch illusorisch ist), den wir als das Sein einer unabhängigen Person kennen.

Wenn dem so ist, dann entstammt das Ödipus-Projekt unserer Intuition, daß das Selbst-Bewußtsein nicht etwas Selbst-Existentes (svabhava) ist, sondern eine mentale Konstruktion. Das Bewußtsein gleicht eher der Oberfläche des Meeres, abhängig von unbekannten Tiefen, und es kann als eine Manifestation eben dieser Tiefen jene nicht ergreifen. Das Problem entsteht dort, wo dieses konditionierte Bewußtsein sich selbst begründen will, d.h. sich selbst real machen will. Wenn das Selbst-Gefühl eine Konstruktion ist, dann kann es nur so versuchen sich zu real-isieren, indem es sich in irgendeiner Form in der Welt objektiviert. Das Ego-Selbst ist dieses unendliche Projekt, sich selbst zu objektivieren, wozu jedoch das Bewußtsein ebenso unfähig ist, wie eine Hand, die sich selbst ergreifen, oder ein Auge, das sich selbst sehen möchte.

Die Konsequenz dieses ständigen Versagens ist, daß das Selbst-Gefühl vom unvermeidbaren Schatten eines Mangel-Gefühls begleitet wird, dem es immer zu entkommen sucht. In der Sprache des Dekonstruktivismus ausgedrückt, ist der unausweichliche Pfad des Nichts in unserem Sein, des Todes in unserem Leben, ein Gefühl des Mangels. Die Wiederkehr des Verdrängten in der verzerrten Form eines Symptoms zeigt uns, wie wir dieses grundlegende und doch hoffnungslose Projekt verknüpfen können mit den symbolischen Ausdrucksweisen, durch welche wir versuchen uns in dieser Welt wirklich zu machen. Wir erfahren diese tiefe Gefühl des Mangels als das Gefühl, daß "da irgendetwas mit mir nicht stimmt", wenngleich sich natürlich dieses Gefühl und unsere Antwort darauf auf verschiedene Weisen manifestiert. In seinen "reineren" Formen erscheint der Mangel als eine ontologische Schuld oder Angst, die fast unerträglich wird, weil sie am eigenen innersten Kern nagt. Aus diesem Grund möchte die ontologische Schuld eine Schuld für Etwas werden, weil wir dann wissen, wie wir dafür büßen können; und Angst strebt danach, sich als Angst vor Etwas zu objektivieren, weil wir dann Wege kennen, uns selbst vor den gefürchteten Dingen zu schützen.

Das Problem mit Objektivierungen ist, daß kein Objekt uns jemals befriedigen kann, wenn es nicht das ist, was wir wirklich wollen. Wenn wir nicht verstehen, was uns tatsächlich motiviert - weil das, was wir glauben uns zu wünschen, ja nur ein Symptom von etwas Anderem ist (gemäß dem Buddhismus, unser Verlangen real zu werden, was im wesentlichen eine spirituelle Sehnsucht ist) - dann enden wir zwanghaft. Daher sind das Leiden und die Verzweiflung des Neurotikers nicht das Ergebnis seiner Symptome, sondern ihre Ursachen; diese Symptome sind notwendig, um den Neurotiker vor Tragödien abzuschirmen, die wir Anderen besser unterdrücken können: Tod, Sinnlosigkeit, Grundlosigkeit. "Die Ironie der menschlichen Bedingtheit ist, daß es das tiefste Bedürfnis ist, frei zu sein von der Angst vor Tod und Auflösung; doch es ist das Leben selbst, das diese Angst in uns erweckt und so schrecken wir davor zurück, völlig lebendig zu sein" (Becker, 1973, S. 181-182).
[Für Becker führt die Konfrontation mit der Wahrheit der menschlichen Bedingtheit bei Abwesenheit psychologischer Schutzmechanismen zu einer mentalen Paralyse, entweder partiell (Neurose) oder schwerwiegend (Psychose). Verbergen wir diese Tatsache vor uns, so finden wir Sicherheit in einer Welt der Projektionen und Übertragungen (Becker, 1973, Kapitel 2-4 und passim).]
Aus buddhistischer Sicht würde man sagen, wenn die Autonomie des Selbst-Bewußtseins eine Illusion ist, die ihr Schatten-Gefühl, daß "etwas mit mir nicht in Ordnung ist", niemals ganz abwerfen kann, dann muß dieses Gefühl der Unzulänglichkeit irgendwie rationalisiert werden.

Solch eine Kritik verlagert unseren Fokus vom Schrecken vor der künftigen Auflösung hin zum Leiden einer jetzt erfahrenen Grundlosigkeit. In dieser Hinsicht symbolisieren sogar die Angst vor dem Tod und die Sehnsucht nach Unsterblichkeit etwas Anderes; sie werden zu Symptomen unserer vagen Ahnung, daß das Ego-Selbst nicht ein fester Kern des Bewußtseins ist, sondern eine mentale Konstruktion, die Achse eines Netzes, gesponnen, um die Leere zu verstecken. Mit Verrückten zusammen zu sein, d.h. mit Menschen, deren Konstruktionen stark beschädigt sind, ist uns auch deshalb unangenehm, weil sie uns an diese Tatsache erinnern.

Dieser Aufsatz wird für die soeben dargestellte Sichtweise auf zwei Arten argumentieren. Zunächst werden wir betrachten, was die Psychotherapie über Schuld, Angst und Projektion herausgefunden hat, um zu sehen, ob sie als verschiedene Symptome des gleichen Problems verstanden werden können, ein unterdrücktes Mangel-Gefühl, das dem Selbst-Gefühl immanent ist.

Dann werden wir der buddhistischen Interpretation von Mangel nachgehen, die mit einem großen Teil des psychotherapeutischen Verständnisses unserer Situation übereinstimmt, die aber einen Weg anbietet zur Auflösung unseres unglückliches Zustands. Der Buddhismus führt das menschliche Leiden (Duhkha) zurück auf Verlangen und Unwissenheit, und bezieht diese auf unseren Mangel eines Selbst. Das Selbst-Gefühl wird in wechselwirkende mentale und physische Prozesse dekonstruiert, deren Relativität zu post-strukturalistischen Schlußfolgerungen führen: das scheinbar einfache Selbst ist ein System wechselwirkender Kräfte. Die buddhistische Lösung dieses Problems ist einfach, obwohl keineswegs leicht: wenn es das Nichts ist, das wir so sehr fürchten, dann sollten wir zu diesem Nichts (no-thing) werden. Die Dualität zwischen Sein und Nicht-Sein kann aufgehoben werden, indem wir uns der Seite ergeben, die wir bislang abgelehnt haben. Wenn ich aufhöre meine Grundlosigkeit zu verleugnen, entdecke ich paradoxerweise, daß vollkommene Grundlosigkeit (Nicht-Sein) gleichbedeutend ist mit voller Grundhaftigkeit (Sein). Das enthüllt, daß es eigentlich niemals einen wirklichen Mangel gegeben hat, weil es niemals ein von der Welt abgetrenntes, selbst-existierendes Selbst gegeben hat. Das Problem des Verlangens ist dann gelöst, wenn die "schlechte Unendlichkeit" des niemals zu befriedigenden Mangels sich verwandelt in eine "gute Unendlichkeit", die nichts benötigt und daher ungehindert alles werden kann.