Das Gesicht im Alltag

Von Gregor Geißmann


Vergessen Sie alles, was Sie je gelernt.

Wenn das Offensichtliche wirklich so offensichtlich ist – warum sehen wir es dann nicht? Probieren Sie es aus: im Keller fällt ein Sack Kartoffeln um. Auf der Fahrt ins Büro werden Sie rechts überholt und dann schwenkt der Fahrer kurz vor Ihnen wieder auf die linke Spur. Sie treten voll auf die Bremse. Was ist schlimmer?

Keine Frage, der Stressfaktor gibt Ihnen die Antwort. Den Sack Kartoffeln nehmen Sie zur Kenntnis. Auch, wenn Sie gar nicht mehr wissen, was ein Sack Kartoffeln ist, da Sie Ihre Kartoffeln grundsätzlich frisch kaufen. Der Schwachkopf, der Sie rechts überholt hat, erzeugt Unmut. Oder Ärger. Oder Wut. Oder eine mehr oder weniger gelungene Sammlung öffentlich zu vermeidender sprachlicher Ausdrücke. In beiden Fällen hat jedoch ein schlichtes Ereignis stattgefunden. Im Falle des Autofahrers werden Erinnerungsbilder abgerufen, die Ihnen sagen, wie gefährlich diese Situation eigentlich war. Und auf diese Erinnerungen reagieren Sie mit Angst in irgendeiner Form. Sie sehen also die Vergangenheit, nicht das, was geschieht.

Das war ein banales Beispiel. Werden wir also etwas spezieller.

Vermutlich sitzen Sie gerade vor Ihrem Computer oder haben sich den Text ausgedruckt, um ihn zu lesen. Frage ich Sie jetzt, was sich hinter Ihnen befindet, werden Sie aller Wahrscheinlichkeit nach antworten »eine Wand, eine Tür, ein Fenster ...«, ohne sich dazu umdrehen zu müssen. Und genau in dem Augenblick haben Sie wieder die Vergangenheit »gesehen«. Woher wissen Sie das? Woher wissen Sie, dass die Erde rund ist? Wieso antworten Sie mit schlafwandlerischer Sicherheit mit »ja«, wenn Sie jemand fragt, ob Wasser abwärts fließt?

Kommen wir Ihnen jetzt noch ein Stückchen näher. Zeigen Sie mit Ihrem Finger auf den linken Fuß. Betrachten Sie den Finger, stellen Sie fest, dass er eine bestimmte Form hat, eine Farbe, einen Ort im Raum. Es ist ein wohldefiniertes »Ding«, das sich von anderen Dingen unterscheiden lässt. Machen Sie dasselbe mit Ihrem Fuß. Stellen Sie fest, dass Sie mit einem »Ding« (den Finger) auf ein anderes »Ding« (den Fuß) zeigen.

Nun zeigen Sie auf das Knie. Verweilen Sie jeweils ein wenig. Sehen Sie die »Dinge«, den Finger und den Fuß. Dann geht es zum Oberschenkel. Hat sich etwas geändert? Vermutlich nicht. Also zeigen Sie jetzt auf den Bauch. Auf die Brust. Und dann gehen Sie mit dem Finger noch höher. Und noch ein Stückchen. Sie sagen, der Finger zeigt nun auf Ihr Gesicht? Dann sind wir an der richtigen Stelle.

Woher wissen Sie, dass sich dort ein Gesicht befindet? Haben Sie jemals dort, wo Ihr Finger hinzeigt, ein Gesicht gesehen? Natürlich, werden Sie sagen, jeden Morgen im Spiegel. Das heißt, Sie sehen auch hier die Vergangenheit. Aber es kommt noch mehr hinzu. Denn Sie haben Ihr Gesicht noch nie gesehen. Sie haben »andere« Gesichter gesehen, dann haben Sie irgendwann in den Spiegel geschaut und jemand hat Ihnen gesagt, dass Sie das sind. Und da Ihnen immer wieder Personen mit Gesichtern begegnet sind und Sie gelernt haben, dass es sich dabei um »andere Menschen« handelt, waren Sie bereit, auch selbst eine solche »Figur« zu sein, und dazu brauchen Sie nun einmal ein Gesicht. Also haben Sie geistig das Spiegelbild genommen, es umgedreht und an die Stelle gesetzt, auf die Sie jetzt mit dem Finger zeigen. Ab dem Zeitpunkt war das »Ihr Gesicht«. Und damit rennen Sie nun schon seit einer geraumen Zeit durch die Gegend. Bis heute. Sie geben sich alle Mühe, mit diesem Gesicht »anderen« situationsgerecht zu begegnen. Sie gönnen dem Gesicht eine besondere Pflege und damit eine besondere Aufmerksamkeit. Douglas E. Harding (www.headless.org) nannte dies das »Gesichtsspiel«, das wir spielen.

Können Sie nachvollziehen, welche Mühe es gekostet hat, alle diese geistigen Verrenkungen zu machen, bis Sie endlich ein Gesicht »hatten«? Bis Sie sagen konnten, das ist »mein Gesicht«? Bis Sie in der Lage waren, auf ein Foto zu schauen und zu einem bestimmten Gesicht zu sagen »das bin ich«?

Worauf zeigen Sie jetzt mit dem Finger? Lassen Sie alle Gedanken über die Vergangenheit weg, vergessen Sie alles, was Sie je gelernt haben, lassen Sie alle Bilder und Vorstellungen über sich beiseite. Worauf zeigt der Finger?

Ist es nicht so, dass ein »Ding« (der Finger) auf ein »Nicht-Ding« zeigt? Ist es nicht offensichtlich, dass der Finger auf den Punkt zeigt, an dem die ganze Welt entsteht? Ist es nicht so, dass der Finger auf SIE zeigt, aber dass SIE kein Ding sind? Ist es das nicht offensichtlich, jenseits der Vergangenheit, d.h. jenseits Ihrer Vorstellungen?

Ihr beruflicher Alltag bietet Ihnen jede Menge Gelegenheiten auszuprobieren, wie gut Sie das Gesichtsspiel spielen oder ob Sie das Offensichtliche sehen. Wie reagieren Sie auf die Figuren, die Ihnen begegnen? Wer reagiert überhaupt auf die Figuren? Was geschieht, wenn ein Kunde Ihnen sagt, dass er das Geschäft mit Ihnen abschließen will? Wer reagiert auf die Aussage Ihres Chefs, dass Ihre Planzahlen im kommenden Geschäftsjahr signifikant erhöht werden, weil Sie so erfolgreich sind? Mit wem redet gerade Ihr Mitarbeiter, der Ihnen bedauerlicherweise mitteilt, dass die Präsentation, die Sie gleich benötigen, noch nicht ganz fertig ist? Wem gehört dieser Arm, der da rechts von Ihnen herausragt und einen Füller hält oder Tasten auf einer Tastatur anschlägt? Wer steuert diesen Arm? Woher weiß der Arm, was als nächstes zu tun ist? Wer hört das Telefon klingeln, und woher weiß diese linke Hand, dass sie zum Hörer greifen soll?

Als philosophisch bewanderter Leser mögen Sie das als Solipsismus bezeichnen. In der Tat, es ist der Solipsismus der EINEN QUELLE, die kein Gegenteil hat. Es ist jedoch nicht der Solipsismus der Person, die Sie sind. Denn diese Person ist nur eine Vorstellung, die Sie erlernt haben und die das Gesichtsspiel mit seinem Leiden uns seiner relativen Freude, die unweigerlich wieder in Leiden endet, aufrecht zu erhalten.

Ihr Alltag bietet genügend Gelegenheiten, diesen wahnsinnigen und langwierigen Lernprozess des »Gesichtsspiels« wieder rückgängig zu machen, und zu »werden wie die Kinder«. So steht es auch schon in der Bibel. Was gibt es sonst zu lernen als das Verlernen des Gesichtsspiels?