Von Gregor Geißmann
Nichts ist so offensichtlich wie das Offensichtliche
Wissen Sie, wovon der Erfolg von Management-Theorien entscheidend abhängt? Ganz einfach: wieweit es dem »Erfinder« gelingt, einen möglichst schlichten Gedanken in möglichst komplizierter Weise auszudrücken. Und wenn er dann noch so beeindruckende Lösungen anbietet, dass Sie endlich wissen, welche Probleme Sie eigentlich haben sollten ...
Legt man diese Maßstäbe an, müsste free management die erfolgreichste Management-Theorie aller Zeiten sein. Denn was ist schlichter als das Offensichtliche? Denn um etwas anderes geht es ja bei free management gar nicht. Und was ist komplizierter als der Versuch, auf das Offensichtliche hinzuweisen? Alle vielen Worte bisher dienten ja nur diesem Zweck.
Als Vertreter der managenden Zunft sind Sie es gewohnt, komplexe Zusammenhänge zu erkennen, sie adäquat darzustellen, zu gewichten und entscheidungssicher weiterzuentwickeln. Sie können Wissen kurzfristig abrufen oder aktivieren und verfügen über ausreichendes Selbstbewusstsein, das sich in erfahrungsbedingter Erfolgszuversicht, Verhandlungsgeschick und Verhandlungssicherheit auf allen Hierarchieebenen sowie in einer ausgeprägten Integrationsfähigkeit äußert. Und alle diese wunderbaren Eigenschaften und Fähigkeiten hindern Sie daran, dass Offensichtliche zu sehen und halten Sie fest in dem, was ich mal als »Leiden« bezeichnen möchte.
Höre ich lautstarken Protest? Nun, dann möchte ich diese Behauptung ein wenig abschwächen, indem ich nach guter alter Taktik ein »wenn« hinzufüge: wenn Sie alle diese Eigenschaften und Fertigkeiten einsetzen, um sich dem Offensichtlichen zu nähern oder es zu erfassen, zu begreifen oder zu erkennen, werden Sie mit Sicherheit scheitern. Denn dann arbeiten Sie mit Bildern, die Sie oder andere sich von Ihnen gemacht haben, aber nicht mit dem, was unmittelbar IST.
Das Offensichtliche ist eben kein Ding wie die Legionen von Dingen, die Sie für wichtig und wirklich halten, und von denen Sie glauben, dass Sie für Ihren Erfolg und Ihr Lebensglück notwendig sind. Nehmen wir ein paar einfache Kriterien: das Offensichtliche unterliegt keinem Wandel, es IST, zeitlos, an keinen Ort gebunden, es beginnt nicht und es endet nicht. Schauen Sie sich um. Forschen Sie in Ihren Erinnerungen. Betrachten Sie das, was Sie für unabdingbar halten, um Ihnen ein Leben in Zufriedenheit gemäß Ihrer Maßstäbe zu garantieren. Lassen Sie sich Zeit. Betrachten Sie ruhig einmal die Einzelheiten und Feinheiten, werden Sie Sich bewusst, was Sie alles entdecken. Reden Sie mit Freunden oder Ihrem Lebenspartner darüber. Und legen Sie einfach bei allem, was Sie dabei sehen oder was Ihnen in den Sinn kommt den Maßstab an, den ich oben beschrieben habe.
Sie werden vermutlich nicht ein Ding, nicht eine Eigenschaft, nicht einen Zustand entdecken, der auch nur eines der Kriterien erfüllt. Alle Ihre »Entdeckungen« wie Gesundheit, Liebe zu einem Partner, Geld, Macht, Erfolg, berufliche oder soziale Position, Statussymbole, Kunst, Musik, Müßiggang, herausfordernde Aufgaben, Freunde, befriedigende Tätigkeiten oder was auch immer werden sich vermutlich dadurch auszeichnen, dass sie beginnen und irgendwann enden. Damit mögen sie vordergründig Quellen (vorübergehender) Freude sein, aber letztlich sind es Quellen des Leidens.
Starker Tobak, sagen Sie? Freude und Leid sind nun mal untrennbar miteinander verbunden, behaupten Sie? Dann haben Sie noch die das entdeckt, was völlig offensichtlich ist, was immer da ist, was nie verborgen war, was niemals Quelle des Leidens war, ist oder sein wird: DAS, was IST. SIE SELBST, ohne verschleiernde Bilder, ohne Konzepte, Urteile, Meinungen oder Gedanken darüber.
Der »logische« Schluß, dass Sie sich diesen »schönen Dingen des Lebens« nicht mehr zuwenden dürfen, um das Offensichtliche zu entdecken, ist falsch. Es ist auch nur ein Gedanke, ein konzeptioneller Überbau, der das Offensichtliche verschleiert. Nichts wäre abwegiger, als sich von dem abzuwenden, was bisher Ihre uneingeschränkte Wertschätzung erfahren hat, es als minderwertig zu beurteilen und nur noch nach DEM zu streben, das offensichtlich ist. Freuen Sie sich weiterhin an den schönen Dingen des Lebens. Aber behalten Sie eines im Hinterkopf: alle diese Schönheiten des Lebens, die Sie kennen und anstreben, können Sie letztlich nicht befriedigen. Sie halten das Rad in Schwung, das IMMER in irgendeiner Form des Leidens endet. Um sich dann erneut aufzumachen, das Glück dort zu suchen, wo es nicht ist und niemals sein wird. Dieser Gedanke sollte zumindest dazu führen, dass Sie entspannter dieser Jagt nach einem Phantom nachgehen. Gönnen Sie sich weniger Stress! Denn diese vergebliche Suche kann zwar lange lange weitergehen, aber auch sie wird enden: im Offensichtlichen.
Glauben Sie mir jetzt, dass free management auch das zweite Kriterium erfolgreicher Management-Theorien erfüllt? Bedauerlich ist nur, dass free management absolut nichts mit Management-Theorien zu tun hat, eher schon mit absoluter Praxis. Was schließlich offensichtlich ist.