Schuld

Fortsetzung von "Das Vermeiden der Leere - von David R. Loy"

Schuld ist für den modernen Menschen zu einem außerordentlichen Problem geworden und dies scheint sich noch zu verschlimmern. In Das Unbehagen in der Kultur (1929, bzw. Civilization and its Discontents, 1930/1989, S. 97) versteht Freud das zunehmende Schuldgefühl als den Preis, den wir für den Fortschritt in der menschlichen Kultur bezahlen, doch ist der Preis so hoch, daß Schuld nun zu dem "wichtigsten Problem in der Entwicklung der Kultur" geworden ist. Norman O. Brown (1961) sieht die soziale Organisation als eine Struktur der geteilten Schuld: die Last ist so schwer, daß sie geteilt werden muß, um kollektiv gesühnt werden zu können. Otto Rank (1958, S. 194) zufolge ist der heutige Mensch neurotisch, weil er genauso wie der prämoderne Mensch an einem Bewußtsein der Sünde leidet, aber ohne an das religiöse Konzept der Sünde zu glauben, und also ohne eine Möglichkeit der Sühne bleibt. In den Ritualen des archaischen Menschen war das Gefühl der Schuldhaftigkeit ausgeglichen durch den Glauben, daß die Schuld zurückgezahlt werden könne; heute sind wir bedrückt durch die Einsicht, daß die Last der Schuld unbezahlbar ist. Selbst die Möglichkeit einer Sühne ist uns verwehrt, wenn wir uns dessen nicht bewußt sind, daß unsere Schwierigkeiten von der Schuld herrühren. So häuft sich also unbewußte Schuld individuell wie auch kollektiv an, mit periodisch sich immer wieder katastrophal auswirkenden Konsequenzen. Ist das der Preis des Fortschritts, oder haben wir ein schlechtes Gewissen wegen all dem, was wir einander und der Erde antun? Oder sollte die Wurzel unserer Schuld unterschieden werden von den Gründen, die wir erfinden, um sie zu rationalisieren?

Freud führte die Schuld zurück auf die biologisch übertragene Erinnerung einer prähistorischen Urtat: Söhne, die sich zusammenschlossen, um ihren autokratischen Vater zu töten. Mit jeder Generation wird dieser Prozeß aufs Neue im Ödipus-Komplex verinnerlicht; die gleichen instinktiven Wünsche wiederholen sich, können vom Über-Ich nicht verborgen werden und so entsteht Schuld. Das Kind hat Todeswünsche gegenüber den Eltern, ist aber auch von ihrer Liebe abhängig. Freud sah eine Parallele zwischen der libidinösen Entwicklung des Individuums und dem Sozialisierungs-Prozeß der Kultur: beide benötigen die Verinnerlichung eines Über-Ichs, welches zu einem unvermeidlichen Konflikt mit instinktiven Bedürfnissen führt.

Es ist faszinierend zu betrachten, wie die Urtat von Freud als dem psychoanalytischen Vater und Jung, Adler, etc. als den rebellischen Söhnen nachgespielt wird. Ebenso beeindruckend ist es, daß Freud, der säkularisierte Jude, die Anfänge unserer "Ursünde" in einer moralischen Gesetzesübertretung gegen den Vater lokalisiert, welcher zu Beginn der Geschichte stattfand und seitdem biologisch weitergegeben wird. Genau wie im Alten Testament sind wir nicht persönlich schuldig an der anfänglichen Gesetzesübertretung, erben aber dennoch die Konsequenzen. Gleichermaßen können wir nichts dafür, daß wir im Kindesalter Todeswünsche gegen unsere Eltern entwickeln, aber angenommen, diese Todeswünsche entstehen gegen die Menschen, die uns aufziehen, dann ist Schuld eine verständliche Reaktion. Beide Mythen erklären die Herkunft von Schuldgefühlen, indem sie uns moralische Gründe geben, die analog sind zu der Weise, wie wir uns das Funktionieren von Schuld im alltäglichen Leben vorstellen: wenn wir etwas Falsches tun (oder wollen), so fühlen wir uns deswegen schlecht. Der Mechanismus wird als der Gleiche angenommen. Die Ursünde mag urgeschichtlich sein, biologisch vererbt, vor-bewußt, und doch ist sie nur eine unterdrückte Version dessen, was immer dann geschieht, wenn wir gegen die natürliche Ordnung verstoßen. Im Sinne der Unterscheidung, die wir im nächsten Abschnitt zwischen neurotischer und ontologischer Schuld einführen, kann man sagen, daß für die Genesis und für Freud alle Schuld neurotisch ist, weil wir alle gesündigt haben.

Wenn jedoch das Ödipus-Projekt der Versuch des Selbst-Gefühls ist, sein eigener Grund zu werden und seine Abhängigkeit von anderen zu beenden, indem es autonom (d.h. selbst-bewußt) wird, dann braucht die entstehende Schuld nicht zurückverfolgt zu werden zu ambivalenten Wünschen. Denn diese Schuld hat ja eine ursprünglichere Wurzel in dem Gefühl des Mangels, welches zwangsläufig aus der unterdrückten Ahnung des Selbst-Bewußtseins folgt, daß es nicht selbst-existent ist. Solch grundlegende "Schuld" ist nun nicht neurotisch, sondern ontologisch. Sie ist nicht die Konsequenz von etwas, das ich getan habe, sondern die Folge der Tatsache, daß Ich bin - wenn auch nur "irgendwie". Ontologische Schuld entsteht durch den Widerspruch zwischen diesem gesellschaftlich konditionierten Gefühl, daß Ich bin und dem Verdacht, daß Ich nicht bin. Dieser Konflikt ist das Gefühl des Mangels und erzeugt ein Ich sollte sein.... Die Tragödie ist, daß ich ins Sein "erwache", nur um mit meinem Mangel an Sein konfrontiert zu werden. Schizophrene mögen sich sogar für ihre bloße Existenz schuldig fühlen, weil dieser Widerspruch in ihnen weniger stark unterdrückt ist.

Die Prähistorie der Genesis und Freud´s Urtat mythologisieren diese Tatsache solcherart, daß jene Form des Bewußtseins keine natürliche Weise der Welterfahrung ist, sondern eine geschichtlich bedingte. Nach Erich Neumann (1973) schafft das volle Entstehen des Ich die ursprüngliche paradiesische Situation ab; dies "wird als Schuld erfahren, ja sogar als Urschuld, als Herabfallen". Die Evolution des Homo Sapiens zum Selbst-Bewußtsein hat die menschliche Spezies vom Rest der Welt entfremdet, welche wir in dem Maße objektiviert von außen betrachteten, wie wir uns zu Subjekten wurden. Diese Ursünde wird von Generation zu Generation weitergereicht als die sprachlich konditionierte und sozial aufrechterhaltene Illusion, daß jeder von uns als ein von der Welt getrenntes Bewußtsein existiert. Doch wenn dies eine Konditionierung ist, so eröffnet sie die Möglichkeit einer Dekonditionierung oder Rekonditionierung.

Warum brauchen wir unser Schuldgefühl und akzeptieren Leiden, Krankheit und Tod als eine angemessene Bestrafung? Welche Rolle spielt diese Schuld bei der Bestimmung der Bedeutung unseres Lebens? Die beste Antwort kommt vielleicht nicht von Freud, sondern von einem Existentialisten: "Ursünde: ein neuer Sinn für Schmerz wurde erfunden" (Nietzsche, 1956).
["´Sünde´ ... stellt das größte Ereignis in der gesamten Geschichte der kranken Seele dar, den gefährlichsten Taschenspielertrick der religiösen Interpretation" (Nietzsche, 1956, S. 277).]
Selbst die Empfindung von Übeltaten gibt uns ein Gefühl der Kontrolle über unser eigenes Schicksal, weil eine Erklärung für unser Gefühl des Mangels geliefert wird. "Das grundlegende Problem ist nicht Schuld, sondern die Unfähigkeit zu leben. Die Illusion von Schuld ist nötig für ein Tier, welches sich am Leben nicht erfreuen kann, um ein Leben der Freudlosigkeit zu organisieren" (Brown, 1961, S. 270). In Zur Genealogie der Moral (bzw. The Genealogy of Morals) beobachtet Nietzsche, daß der Mensch bereitwillig leidet, wenn ihm eine Begründung für sein Leiden gegeben wird. Da nichts schmerzvoller zu ertragen ist, als purer Mangel, müssen wir ihn auf irgendein Objekt projizieren, denn nur so können wir ihn bewältigen. Wird dieses Objekt außerhalb gefunden, reagieren wir mit Ärger; wird dieser nach innen gerichtet, wandelt er sich zu Schuld (introjizierter Ärger, gemäß der Psychoanalyse). In "Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit" (bzw. "Some Character Types Met with in Psycho-analytic Work") beschreibt Freud (1916) "Kriminelle aus einem Gefühl der Schuld", deren Schuldgefühle so stark sind, daß das Begehen einer Missetat ihnen tatsächlich Erleichterung bringt - was Sinn macht, wenn das, wonach sie sich sehnen, irgendetwas Bestimmtes ist, wofür sie büßen können. "Schuld impliziert Verantwortung; und wie schmerzvoll auch immer die Schuld ist, sie mag der Hilflosigkeit vorzuziehen sein" (Schmideberg, 1956, S. 476). Wir alle sind ja nur zu vertraut mit kollektiven Beispielen anderer Schuldzuweisungs-Systeme: Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus, usw. Wenn die soziale Organisation eine Struktur der geteilten Schuld ist, welch bessere Lösung gäbe es für das gemeinsame Gefühl des Mangels, als dieses auf einen gemeinschaftlichen Sündenbock zu projizieren? Dies ist das Ressentiment, welches Nietzsche (1968a; 1968b) in der Seele des modernen Menschen entdeckte:

Der Geist der Rache: dies, meine Freunde, war bis heute das Hauptanliegen der Menschheit; und wo es auch Leiden gab, da wurde immer Bestrafung angenommen.
Und so weit wie der Mensch gedacht hat, hat er den Bazillus der Rache in die Dinge hineingebracht. Er hat sogar Gott damit infiziert, er hat generell der Existenz die Unschuld entzogen.

Dies enthüllt das Problem, zu dem das Postulieren einer Ursünde als dem letztlichen Grund für unser Leiden führt: anstatt uns zu helfen, unser Mangel-Gefühl zu beenden, verfestigt es unseren Mangel durch die Unterstützung mit einer Geschichte. Es ist auch dieses Postulieren der Ursünde, das die Institutionen, Religionen und dergleichen aufrechterhält, die behaupten, Kontrolle über die entsprechende Absolution zu haben.

Im Gegensatz dazu verfestigt der Buddhismus das Gefühl des Mangels nicht in eine Ursünde,obwohl unsere Probleme mit Anhaftung und Unwissenheit historisch konditioniert sind. Dies ist eine wichtige Art und Weise wie sich ein Nichtdualismus, wie etwa der Buddhismus, vom Theismus unterscheidet. Wenn wir an einen alles-liebenden, all-mächtigen Gott glauben, dann kann unser Leiden psychologisch nur gerechtfertigt werden, indem wir eine Urtat des Ungehorsams gegen Ihn postulieren. Sakyamuni Buddha erklärte, daß er nicht an der metaphysischen Frage des Ursprungs interessiert sei und betonte, daß er nur eine einzige Sache lehre: Duhkha und das Ende von Duhkha, unser Leiden jetzt und den Weg zur Beendigung dieses Leidens. Das bedeutet, daß der buddhistische Pfad nichts anderes ist, als ein Weg, um unser Gefühl des Mangels aufzulösen. Da es keine Ursünde und keine Vertreibung aus dem Paradies gegeben hat, stellt sich unsere Situation als paradox heraus: das aktuelle Problem ist unsere tief verdrängte Angst, daß unsere Grundlosigkeit / unser Nichts-Sein ein Problem ist. Wenn ich mit dem Versuch aufhöre, jenes Loch in meinem Inneren aufzufüllen, indem ich mich auf eine symbolische Art und Weise rechtfertige oder real-isiere, dann geschieht etwas mit dem Loch - und mit mir.

Dies kann leicht mißverstanden werden, da das notwendige Loslassen für das Bewußtsein nicht direkt zugänglich ist. Das Ich kann sich von seinen eigenen Mangel nicht befreien, weil das Ich die andere Seite dieses Mangels ist. Wenn die ontologische Schuld "reiner" erfahren wird - als das unobjektivierte Gefühl, daß "etwas mit mir nicht stimmt" - dann scheint es keinen Weg zu geben damit umzugehen, und also wird uns dieses Gefühl normalerweise auf diese oder jene besondere Art bewußt als die neurotische Schuld des "nicht gut genug zu sein". Aus der Sicht des Buddhismus sollte die in solchen Situationen freigesetzte Schuld zurückverwandelt werden in die ontologische Schuld und diese Schuld muß ohne Ausflucht ertragen werden; die Methode dafür ist einfach nichtduale Achtsamkeit, welche in der Meditation kultiviert wird. Das Resultat ist, daß man sich zutiefst schuldig und völlig wertlos fühlt, nicht weil man irgendetwas getan hätte, sondern weil man einfach da ist. Durch das Loslassen der mentalen Verhaltensweisen, die meine Selbstwertschätzung aufrechterhalten, stehe ich allein und verletzlich da. Solche Schuld, die im Kern oder eher als der Kern des eigenen Wesens erfahren wird, kann nicht durch das Ich-Selbst aufgelöst werden; es gibt nichts, was man damit tun kann, außer sich darüber bewußt zu sein, dies zu ertragen und sich selbst ausbrennen zu lassen, so wie ein Feuer, das seinen Brennstoff selbst aufbraucht, welcher in diesem Falle das Selbst-Gefühl ist. Wenn wir die Fähigkeit kultivieren, damit zu leben so wie es ist, dann wird die ontologische Schuld, da sie nichts anderes findet, wofür sie schuldig sein könnte, das Selbst-Gefühl und damit auch die Schuld restlos aufzehren.

aus:

Loy, D. R. : Das Vermeiden der Leere:
Der Mangel eines Selbst in Psychotherapie und Buddhismus.
Version 1.00h vom 26.06.2001.
-- URL: http://www.mb-schiekel.de/loy8d.htm . -- [Stichwort].