Angst

Fortsetzung zu "Das Vermeiden der Leere - von David R. Loy"

Es ist wohl kein Zufall, daß alles, was bislang über Schuld gesagt wurde, nun erneut unter dem Begriff von Angst angeführt werden muß. Schuld scheint ein begrenzter Fall von Angst zu sein. Sogar die ontologische Schuld hat ein Objekt: das eigene Gefühl des Selbst, da es ja das Selbst ist, weswegen das Selbst sich schlecht fühlt. In der Angst jedoch erlangt der Mangel seine ursprüngliche Form, die formlos ist. Solch objektlose Angst zu kultivieren ist der direkteste Weg, um unsere eigene Formlosigkeit zu realisieren.

Freud erkannte nach und nach, daß die Angst ganz zentral für den Humanisierungsprozeß ist. Zunächst verstand er die Angst als ein Nebenprodukt der Verdrängung, aber schnell korrigierte er sich. "Es war nicht die Verdrängung, welche die Angst hervorrief; die Angst war bereits zuvor da und erzeugte die Verdrängung." Dies macht dann eher das Ich als die Libido zum Sitz der Angst. Obwohl Freud betonte, daß sein Konzept des Unterbewußtseins von der Theorie der Verdrängung hergeleitet war, schaffte er es nie, die Frage zu seiner eigenen Zufriedenheit zu beantworten, warum es ursprünglich Verdrängung gibt. Bei neurotischen Phobien wird das Symptom konstruiert, um einen Ausbruch der Angst zu verhindern - das führt Neurose und Verdrängung zurück auf die Angst. Aber damit verschieben wir das Problem nur eine Stufe weiter nach hinten:

Wieder einmal sind wir uns im Unklaren über das Rätsel, mit dem wir schon so oft konfrontiert wurden: woher kommt die Neurose - was ist ihr letztlicher, ihr eigentümlicher raison d'etre? Nach zehn Jahren psychoanalytischer Arbeit befinden wir uns mit diesem Problem noch genauso im Dunkeln wie am Anfang (Freud, 1923/1989).

In der nächsten Generation war es Harry Stack Sullivan, der am meisten über Angst zu sagen hatte, und er erkannte eine ganz wesentliche Verbindung zwischen der Angst und der Bildung des Selbst. Angst entspringt ursprünglich aus der Befürchtung des Kindes vor der Mißbilligung durch wichtige Personen in seiner Welt. So wie Freud sah Sullivan Angst als "kosmisch" an, als etwas, das uns total ergreift, und das Selbst wird aus der Notwendigkeit des Kindes heraus gebildet, solche Angst erzeugenden Erfahrungen zu bewältigen, d.h. sich gegen die Angst zu verteidigen. Das Selbst "kommt ins Dasein als eine Dynamik um das Gefühl der Sicherheit aufrechtzuerhalten". Dies trifft nicht nur auf das Verhalten, sondern auch auf das Bewußtsein selbst zu:

Das Selbst entwickelt sich dahin, das Gewahrsein zu kontrollieren und unser Bewußtsein darüber, was in unserer Situation vor sich geht, sehr weitgehend durch das Instrumentarium der Angst zu beschränken. Dies hat zur Folge, daß es zu einer Dissoziation des persönlichen Gewahrseins von solchen Tendenzen der Persönlichkeit kommt, die nicht in der gebilligten Struktur des Selbst enthalten sind oder in diese vereinnahmt wurden (Sullivan, Mai, 1977, S. 145-146).

Wir könnten um keine klarere Formulierung bitten: es ist nicht einfach nur so, daß irgendetwas verleugnet wird, denn gerade diese Verleugnung konstituiert ja das Selbst. Soviel zum Adel des kartesianischen Ich-Bewußtseins: das Selbst-Gefühl wird vom Ort der Rationalität zu einem Verhaltensmuster der Ausflüchte reduziert. Es ist kein Wunder, daß das Ich-Bewußtsein sich so unbehaglich anfühlt, da ja die Bewältigung von Unbehagen seine Rolle ist. Auch kein Wunder ist es daher, daß es so schwierig ist, zu erkennen, wer oder was wir sind, da ein solches Bewußtsein kein Sein, sondern nur eine Funktion ist. Dies macht aus dem Selbst-Gefühl einen doppelten Mangel: ein grundloses Gewahrsein mit der Aufgabe, Angst zu verdrängen.

Ebenso wie die ontologische Schuld zu einem spezifischeren Fehler werden "will", damit ich mit dem fertigwerden kann, was an mir nicht stimmt, so will auch die Angst zu einer Furcht werden. Freud unterschied zwischen der Angst (bei der es keine Bedrohung durch ein Objekt gibt) und Furcht (bei der eine solche vorhanden ist), aber Psychoanalytiker nach ihm empfanden diese Unterscheidung als in der Praxis schwierig beizubehalten. Rollo May zufolge "ist Angst die ursprüngliche und grundlegende Reaktion ... und Furcht ist der Ausdruck der gleichen Fähigkeit in ihrer spezifischen, objektivierten Form". Angst "ist objektlos, weil sie an der Basis jener psychologischen Struktur angreift, bei welcher die Wahrnehmung des eigenen Selbst als getrennt von der Welt der Objekte entsteht" (1977, S. 198, 182). Nach meiner buddhistischen Interpretation begleitet solch reine Angst die Intuition des Ich-Selbst von seiner eigenen Unwirklichkeit; wie beruhigend ist es also, diese Angst nach außen zu projizieren als Drohung durch ein externes Objekt. Wenn das Selbst durch die Verleugnung der Angst konstituiert wird, wie Sullivan zu sagen scheint, dann wird die Objektivierung der Angst in Furcht auch das Selbst-Gefühl in dasjenige subjektivieren, das mit der Furcht umgeht, - und in dasjenige, was vor der Bedrohung beschützt werden muß.

Wenn das so ist, dann impliziert die Beendigung der Angst (falls das möglich ist) auch die Beendigung des Selbst-Gefühls als etwas Autonomes und Selbst-Begründetes. Freud sagt, das, was das Ich in der Angst fürchtet, "ist dem Wesen nach eine Vernichtung oder Auslöschung". Rollo May fügt hinzu, daß bei der Angst "die Sicherheitsgrundlage des Individuums bedroht wird, und da es unter der Bedingung dieser Sicherheitsgrundlage für das Individuum erst möglich war, sich als ein Selbst in Bezug zu Objekten zu erfahren, bricht der Unterschied zwischen Subjekt und Objekt ebenfalls zusammen" (May, 1977, S. 183). Kein Buddhist könnte es besser ausdrücken. Solch ein Zusammenbruch ist für die Psychoanalyse eine Definition der Psychose, für den Buddhismus kann er die Erleuchtung beschreiben:

Wo es ein Objekt gibt, da gibt es auch ein Subjekt, doch nicht dort, wo es kein Objekt gibt. Aus der Abwesenheit eines Objekts resultiert auch die Abwesenheit eines Subjekts, und nicht nur die Abwesenheit des Ergreifens. Eben auf solche Weise entsteht jene Wahrnehmung, die ungeteilt, objektlos, unterschiedslos und überweltlich ist. Die Neigungen, Objekt und Subjekt als getrennte und reale Einheiten zu sehen, sind aufgegeben und das Denken wird in der wahren Natur des eigenen Denkens gegründet (Vasubandhu, 1964).

So stellt sich die Frage, ob die Subjekt-Objekt Unterscheidung auf verschiedene Weisen zusammenbrechen kann: warum kann der Mystiker in demselben Meer schwimmen, in welchem der Psychotiker ertrinkt.

Zusammengefaßt impliziert die buddhistische Kritik des Ich-Selbst, daß Angst für das Ich essentiell ist, weil sie die Antwort des Ich auf seine eigene Grundlosigkeit ist, etwas das unmittelbarer und bedrohlicher erscheint als die Angst vor dem Tod irgendwann in der Zukunft. Dieses Thema ist auch in der existentialistischen Philosophie bekannt, doch ungewohnt in der Psychoanalyse. In Existential Psychotherapy diskutiert Irvin Yalom das, was er die "Ur-Angst" der Grundlosigkeit nennt, doch er folgert, daß anders als die Todes-Angst (welcher er fast die Hälfte seines Buches widmet), die Grundlosigkeits-Angst in unserer Alltagserfahrung nicht offensichtlich ist (Yalom, 1980, S. 221-222).
[Existential Psychotherapy 221-222. Dennoch zitiert Yalom eine gewisse Evidenz für die Grundlosigkeits-Angst. Beispielsweise haben Adah Maurer und Max Stern unabhängig voneinander Forschungen über die nächtlichen Schrecken sehr junger Kinder durchgeführt. Stern schloß, daß das Kind vor dem Nichts in Panik verfällt; Maurer folgert, die erste Aufgabe des Kindes sei es, zwischen Selbst (Sein) und Umgebung (Nichtsein) zu unterscheiden, und während eines nächtlichen Schreckens könnte das Kind ein "Gewahrwerden des Nichtseins" erfahren (S.89).]
Ist solche Angst so schwer zu erkennen, weil sie so selten ist - so begrenzt vielleicht, wie abstrakte Philosophen sagen - oder weil sie so gut verdrängt ist?

Otto Rank unterschied Angst in einem einflußreichen Aufsatz mit dem Titel "Lebens-Furcht und Todes-Furcht" ("Life Fear and Death Fear") in zwei gegensätzliche, aber komplementäre Arten der Furcht. Die Lebens-Furcht ist die Angst angesichts des Heraustretens aus der Natur und der Individuation, wodurch wir die Verbindung mit dem größeren Ganzen verlieren. Die Todes-Furcht ist die Angst angesichts der Vernichtung, des Verlustes der Individualität und der Auflösung zurück in das Ganze. "Zwischen diesen beiden Möglichkeiten der Furcht wird das Individuum sein ganzes Leben lang hin und her geworfen" (Rank, in Yalom, 1980, S. 141-142). In Existential Psychotherapy entwickelt Yalom dies weiter zu seinem eigenen dualen Paradigma der Todesverleugnung durch Individuation oder Vereinigung. Die psychologische Verteidigungshaltung der Besonderheit versucht, anders und besser zu werden als alle anderen und sich auf diese Art ein besseres Schicksal zu verdienen. Die Verteidigungshaltung der Vereinigung versteckt sich in der Gruppe, was die Erwartung einschließt, daß andere sich um einen kümmern. Yalom verwendet diese Verteidigungshaltungen gegen den Tod, um das Verhalten vieler seiner Klienten zu erklären, ungeachtet der Tatsache, daß viele von ihnen wenig bis gar keine Todes-Angst zeigen.

Meiner Meinung nach braucht Yaloms Paradigma nicht auf jene Anwendungsfälle beschränkt zu werden, die Yalom dafür findet, denn die Haltungen der Besonderheit und der Vereinigung können ja bei der Verteidigung gegen ein Gefühl des ontologischen Mangels noch erfolgreicher sein. Wenn ich durch eine uneingestandene Intuition meiner Grundlosigkeit angetrieben werde, dann kann ich versuchen dies dadurch zu kompensieren, daß ich jemand besonderes und aus der Menge herausragendes werde, in der Hoffnung, durch die Anerkennung der Menge real zu werden. Umgekehrt kann ich auch versuchen, mein Gefühl des Mangels durch die Vereinigung mit anderen zu lösen, um mich nicht von ihnen zu unterscheiden: "ich bin in Ordnung; ich bin genauso wie alle anderen". Im ersten Fall kompensiere ich durch das Bestreben, realer als andere zu werden; im zweiten Fall beruhige ich mich selbst, indem ich nicht weniger real werde, als die anderen zu sein scheinen.

Bis vor kurzem lag die Betonung auf einer mehr gemeinschaftlichen Version des letzteren. Gesellschaft kann sehr wohl eine Struktur der geteilten Schuld sein, wie Brown sagt, aber es ist doch viel offensichtlicher eine Struktur der geteilten Angst. Heute ist unser Problem mit der Angst aus zumindest zwei Gründen größer: eine individualistischere Gesellschaft produziert Menschen mit einem stärkeren Selbst-Gefühl, und dadurch bedingt mit stärkerer Angst, und diese Gesellschaft stellt weniger effektive Wege bereit, mit dieser Angst fertig zu werden. Religion ist der traditionelle Trost, weil sie mir versichert, daß meine Angst zur Ruhe kommen, mein Mangel gefüllt werden, und meine Grundlosigkeit in Gott oder Nirvana gegründet werden wird. Wenn dies unser tiefstes Bedürfnis ist, dann wird der Tod Gottes nur die Suche nach einem Äquivalent zur Folge haben. Die Individuelleren können versuchen ihre eigenen Egos zu vergöttern, aber es ist schwierig, zu seiner eigenen Sonne zu werden. Die meisten Menschen benötigen eine kollektivere, eine objektiviertere Gottheit. Hierin liegt viel von der Anziehungskraft des Anspruchs von Nationalismus und Sozialismus, den "Willen der Menschen" auszudrücken. "Wenn Modernisierung als die sich ausbreitende Bedingung der Heimatlosigkeit beschrieben werden kann, dann kann Sozialismus als das Versprechen einer neuen Heimat verstanden werden" (Berger, Berger & Kellner, 1973).

Hier liegt auch der Schlüssel zum Verständnis vieler Horrorgeschehnisse des zwanzigsten Jahrhunderts.

Der Totalitarismus ist ein kulturelles neurotisches Symptom der Notwendigkeit von Gemeinschaft - ein Symptom in der Hinsicht, daß er als ein Mittel zur Reduktion der Angst ergriffen wird, wie sie aus dem Gefühl der Machtlosigkeit und Hilflosigkeit von isolierten, entfremdeten Individuen erwächst, produziert von einer Gesellschaft, in der ein vollständiger Individualismus das dominante Ziel war. Totalitarismus ist die Substitution des Kollektivismus für die Gemeinschaft, wie Tillich das aufgezeigt hat (May, 1977, S. 212).
[Ohne ein solches psychoanalytisches Verständnis sind soziologische Erklärungen, wie Hannah Arendt´s "Die Banalität des Bösen" unvollständig. (Siehe ihr Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht über die Banalität des Bösen (New York: Viking, 1964), S.276 und passim.)]

In dem Abschnitt, dem dieses Zitat entnommen wurde, untersucht May die Dinge nicht tiefer, als bis hin zu der Notwendigkeit von Gemeinschaft; er betrachtet nicht, wofür diese Notwendigkeit stehen könnte. Das ist kein unwichtiges Thema im Zusammenhang mit dem sich rapide entwickelnden "globalen Dorf", weil es doch bedeutet, daß es keine Rückkehr zu den kleinen Städten gibt, die noch bis vor ein paar Generationen die meisten von uns unterstützt haben. Nostalgie mag diese Gemeinschaften mythologisieren, tatsächlich aber lieferten sie die Sicherheit einer gemeinsamen Weltsicht und die Hoffnung auf Erlösung in der einen oder anderen symbolischen Form. Ohne diese Möglichkeit stellt sich die Frage, ob es eine andere Alternative zum Massenkollektivismus gibt, eine andere Art der Gemeinschaft, in der Individuen fähig sind, mehr persönliche Verantwortung für den Umgang mit erhöhter Angst und das Lösen ihres eigenen ontologischen Mangels zu übernehmen.

Dies bringt uns zurück zu der Möglichkeit, Angst zu beenden. Erneut läßt sich vieles von dem, was zuvor über die Beendigung der Schuld gesagt wurde, auch hier anführen, gleichsam übertragen von einem geringer wichtigen Thema zu einem bedeutenderen. Aber noch bemerkenswerter im Zusammenhang mit Angst ist die fast einmütige Übereinstimmung zwischen Existentialisten und Psychoanalytikern, daß Angst nicht beseitigt, sondern nur reduziert und am rechten Platz gehalten werden kann. Viele Psychologen bezweifeln generell, daß Angst beseitigt werden sollte, da sie diese als einen Antrieb zu einem erhöhten Gewahrseins sehen, oder doch als dessen notwendiges Nebenprodukt. Liddell merkt an, daß "Angst intellektuelle Aktivität wie ein Schatten begleitet" (zit. nach May, 1977, S. 46).

Für eine andere Sichtweise müssen wir uns erneut der Religion zuwenden, was uns mit der Aufgabe konfrontiert, die Transformation zu entmythologisieren und von der Tröstung zu unterscheiden, und damit zwischen Möglichkeit und Wunschdenken zu unterscheiden. Für die Rolle der Angst im religiösen Leben kann ich keine bessere Darstellung finden als das kurze Kapitel, welches Kierkegaards Das Konzept der Angst abschließt. Auf wenigen unvergeßlichen Seiten skizziert Kierkegaard das Paradox, daß, falls es ein Ende der Angst geben sollte, dieses nur durch die Angst gefunden werden kann. Richtig verstanden und erfahren (jemand der diese Angst mißversteht ist verloren, sagt er), ist Angst eine Schule, die alles Endliche und Belanglose in uns entwurzelt und uns erst dann überall dorthin bringt, wo wir hin wollen. Ebenso wie der Frage der Schuld ist auch hier der Pfad der Integration ein Gewahrsein, welches die Angst nicht flieht, sondern sie erträgt, um die Teile der Psyche zu heilen, die sich abgetrennt haben und jetzt zurückkehren, um uns in projizierter, symbolischer Form zu quälen. Wenn es, um Schuld zu integrieren, der Weg ist, vollkommen schuldig zu sein, dann ist der Weg, um Angst zu integrieren, vollkommen zu Angst zu werden: formlose, unprojizierte Angst an all diesen "begrenzten Zielen" nagen zu lassen, mit denen ich versucht habe mich selbst abzusichern; so daß durch das Verschlingen dieser Anhaftungen die Angst mich ebenfalls verschlingt und wie ein Parasit, welcher seinen Wirt umbringt, sich selbst verzehrt (siehe Kierkegaard, 1957, S. 155-162).

Wenn wir lernen, Angst zu erfahren, so lernen wir das Endgültige, sagt Kierkegaard. Die Schule der Angst ist der Weg zu wahrer Freiheit; jener Freiheit, die uns verbleibt, nachdem wir von all den tröstlichen Verstecken befreit wurden, in die wir uns automatisch zurückziehen, wann immer wir uns unsicher fühlen. Nur solche Angst ist "absolut erzieherisch, weil sie alle begrenzten Ziele konsumiert und all ihre Täuschungen entdeckt." Der Lehrplan dieser Schule ist die Möglichkeit, "die schwerste aller Kategorien." Ganz gleich welche Tragödien uns aktuell zustoßen, sie sind doch immer weit leichter als das, was geschehen könnte. Wenn ein Mensch "die Schule der Möglichkeiten abschließt, ... dann versteht er besser, als ein Kind sein ABC kennt, daß er vom Leben nichts verlangen kann und daß das Schreckliche, die Verdammnis und Auslöschung Tür an Tür mit jedem Menschen leben." Es ist eine Übung der Achtsamkeit: alle psychischen Sicherheiten auszugraben, mit denen wir uns umgeben und die wir dann "vergessen" haben, bis wir uns selbst in einer sicheren aber eingeschränkten kleinen Welt wiederfanden. Das Bewußtsein darüber, was uns in jedem Augenblick zustoßen könnte, dekonstruiert diesen komfortablen Kokon durch die ständige Erinnerung unserer Sterblichkeit; psychotherapeutisch gesprochen, macht dies unsere unbewußten Kraftverbindungen oder Unterstützungen zunichte. "Er, der er in Möglichkeiten versank ... sank absolut, doch tauchte dann aus der Tiefe des Abgrundes wieder auf, leichter als all die schwierigen und schrecklichen Dinge des Lebens." Solch ein Mensch fürchtet das Schicksal nicht mehr, "weil die Angst in ihm das Schicksal bereits geformt hat und ihm absolut alles genommen hat, was das Schicksal ihm nur nehmen könnte". Diese spirituelle Disziplin steht in deutlichem Gegensatz zum Gefühl des göttlichen Schutzes, der üblicherweise als ein weltlicher Vorteil des religiösen Glaubens angenommen wird. Kierkegaard ist keineswegs weniger am Glauben interessiert, aber dieser ist für ihn nicht so billig erhältlich. Authentischer Glauben ist keine Zuflucht vor der Angst, sondern die Frucht der Angst.

Wenn das Ego-Selbst eine mentale Konstruktion ist, deren Funktion es ist, ein Gefühl der Sicherheit aufrechtzuerhalten (wie Sullivan es versteht), dann sollte solch eine Übung der Dekonstuktion der Sicherheit das Selbst-Gefühl auflösen. Normalerweise ist ein großer Teil unserer geistigen Aktivität von dem Bedürfnis bestimmt, beruhigende Verstecke zu finden, in die wir fliehen können, wenn unser Selbstbewußtsein bedroht ist. Ein triviales Beispiel: wenn ich ein Schachspiel gegen einen Gegner mit einer viel geringeren Einstufung verliere, so kompensiere ich automatisch: die offiziellen Einstufungen zeigen ja, daß ich in Wirklichkeit der bessere Spieler bin. Durch Wiederholung verfestigt bildet das Netz solcher Automatismen meinen Charakter und damit meine Unfreiheit: all die Verhaltensweisen, mittels derer ich gewohnheitsmäßig vor einer Begegnung mit der Welt davonlaufe. Sowohl im Buddhismus wie auch bei Kierkegaard muß ich diese gedanklichen Stützen aufgeben, und das bedeutet zu leiden. Ohne diese Verteidigung des Selbstbewußtseins sterbe ich Tausende kleiner Ego-Tode, oder in der Zen-Metapher, ich laufe auf den Schneiden Tausender Schwerter. Nach Kierkegaard sind solche gedanklichen Stützen die Endlichkeiten, welche entwurzelt werden müssen, um das Unendliche freizulegen, das unser wahrer Grund ist.

aus:

Loy, D. R. : Das Vermeiden der Leere:
Der Mangel eines Selbst in Psychotherapie und Buddhismus.
Version 1.00h vom 26.06.2001.
-- URL: http://www.mb-schiekel.de/loy8d.htm . -- [Stichwort].