Duhkha im Buddhismus

Fortsetzung zu "Das Vermeiden der Leere - von David R. Loy"

Einem Mönch, dessen Geist solcherweise befreit ist, können noch nicht einmal die Götter folgen und ihn auffinden ... Ja, selbst in diesem jetzigen Leben, ihr Mönche, so sage ich, kann ein befreites Wesen nicht wirklich erkannt werden. Und obwohl ich dies so sage und lehre, klagen mich einige Asketen und Brahmanen falsch und grundlos an, indem sie behaupten, der Asket Gotama ist ein Nihilist ist und lehrt die Vernichtung, Zerstörung und Nicht-Existenz des lebendigen Wesens. Dies bin ich nicht und solche Lehre bestätige ich nicht. Sowohl früher wie auch jetzt lehre ich Duhkha und das Ende von Duhkha (Sakyamuni Buddha, Majjhima Nikaya 22).

Ich kenne keine genaue buddhistische Entsprechung für das psychoanalytische Konzept der Verdrängung und der Rückkehr des Verdrängten als Symptom. Jedoch haben wir schon festgestellt, daß der Buddhismus einen Ausdruck hat, der mit dem Mangel-Gefühl, so wie ich dies oben verwendet habe, korrespondiert - und nicht zufällig ist dies wohl das wichtigste Konzept von allen: Duhkha. Der Buddha faßte mehrfach seine Lehren in vier Wahrheiten zusammen: Duhkha, die Ursache von Duhkha, das Ende von Duhkha und den Weg zur Beendigung von Duhkha. Was dies zu einer Entsprechung von Mangel macht, ist, daß der Buddhismus einen grundlegenden Zusammenhang zwischen unserem Duhkha und unserem täuschenden Selbst-Gefühl sieht. Um Duhkha zu beenden, muß das Selbst-Gefühl dekonstruiert werden.

Duhkha ist ein Begriff aus dem Sanskrit, der Leiden, Schmerz, Beschwernis, Frustration, usw. bedeutet. Die erste Wahrheit definiert den Homo Sapiens als das unbefriedigte Tier. Solange wir die letztendliche Quelle unseres Duhkha nicht konfrontieren, solange wird jede Verbesserung eines Lebensaspektes nur die Betonung von Duhkha zu einem anderen Aspekt hin verschieben: z.B. von physischem Schmerz hin zu psychischem Streß. Dies ist, genau wie bei der Angst im psychoanalytischen Verständnis, deshalb so, weil Duhkha nicht etwas ist, was wir haben, sondern etwas, das wir sind.

Die frühe Kommentar-Tradition unterscheidet drei Arten von Duhkha. In der ersten Art von Duhkha ist all das enthalten, was wir normalerweise als Leiden und Beschwernis ansehen, also Geburtstrauma, Krankheit, Kummer, körperlicher Verfall, Todesangst, verbunden sein mit dem, was man nicht mag, getrennt sein von dem, was man liebt, usw. Wenn wir für einen Augenblick von solchen Leiden frei sind, dann können wir über die zweite Art von Duhkha nachdenken, die durch Anitya, die Unbeständigkeit, verursacht wird. "So ist die Situation im Leben, daß niemand ohne die Erwartung einer Veränderung glücklich ist: die Veränderung selbst ist nichts, denn wenn wir sie erreicht haben, so ist unser nächster Wunsch eine erneute Veränderung" (Dr. Johnson). So lange, wie es den Mangel gibt, ist das wirkliche Leben immer anderswo. In der modernen Zeit hat sich dieses Problem verschlimmert:

Auf der einen Seite ist die moderne Identität offen, kurzlebig und einer andauernden Veränderung unterworfen, andererseits stellt ein subjektiver Identitätsbereich den wesentlichen Halt des Individuums in der Realität dar. So wird ein sich ständig änderndes Etwas als das ens realissimum angenommen. Daher sollte es nicht überraschen, daß der moderne Mensch von einer permanenten Identitätskrise belastet wird, ein Zustand, der eine beachtliche Nervosität fördert.

... Die letztliche Folge aus all diesem kann sehr einfach ausgedrückt werden (obwohl die Einfachheit trügerisch ist): der moderne Mensch hat einen sich vertiefenden Zustand der "Heimatlosigkeit" erlitten. Dieser unstete Charakter seiner Erfahrung mit der Gesellschaft und sich selbst entspricht dem, was man einen metaphysischen Verlust der "Heimat" nennen könnte. Es versteht sich von selbst, daß dieser Zustand psychologisch schwer zu ertragen ist (Berger, Berger & Kellner, 1973, S. 74, 77).

Der besondere Beitrag des Buddhismus ist, wie er diese ersten beiden Arten von duhkha -Unbehagen und Unbeständigkeit - mit der Struktur des Selbst-Gefühls in Beziehung setzt: die dritte Art von Duhkha entsteht aufgrund der konditionierten Zustände, der physischen und mentalen Faktoren, deren Wechselwirkung das Ich-Selbst konstituiert. Samadhi, die meditative Versenkung, ermöglicht es uns, unser Mangel-Gefühl zu beenden, indem wir die Fähigkeit kultivieren, uns selbst zu vergessen, wodurch das Selbst-Gefühl sich selbst losläßt. Der Rest dieses Aufsatzes diskutiert diese buddhistische Dekonstruktion. Der folgende Abschnitt präsentiert die ontologische und epistemologische Dekonstruktion des Selbst nach der buddhistischen Doktrin. Der Schlußteil betrachtet diese Dekonstruktion mehr von der phänomenologischen Seite, also aus der Sicht der buddhistischen Praxis, um zu verstehen, wie diese das Problem unseres Mangels löst.

Buddhistische Dekonstruktion des Selbst

Der Buddhismus dekonstruiert das Selbst-Gefühl auf zweierlei Weise: synchron in die fünf Skandhas, wörtlich Haufen oder Gruppen, und diachron in das Pratitya-Samutpada, das abhängige Entstehen. Diese Lehren erklären, wie die Illusion eines Selbst entsteht und funktioniert und implizieren auch, wie diese Illusion beendet werden kann.

Die fünf Skandhas sind die physischen und mentalen Faktoren, welche die psychophysische Persönlichkeit bilden. Sie werden normalerweise übersetzt als: Form, einschließlich des materiellen Körpers mit seinen Sinnesorganen; Gefühle und Empfindungen; Wahrnehmungen; mentale Formationen (oder Willens-Tendenzen), einschließlich Gewohnheiten und Veranlagungen; Bewußtsein, hier verstanden als das Sechs-Sinnes-Bewußtsein (einschließlich des mentalen Bewußtseins der mentalen Ereignisse). Diese fünf Skandhas werden auch "die fünf Gruppen des Ergreifens" genannt. Alle mit dem Selbst-Gefühl zusammenhängenden Erfahrungen können mittels dieser fünf "Gruppen" ohne irgendwelche anderen Bezüge analysiert werden und über oder jenseits der Funktionsweisen der fünf Skandhas gibt es kein inhärentes Selbst und keine transzendente Seele. Der Buddha betonte, daß diese fünf Skandhas nicht das Selbst konstituieren, sondern daß ihre Wechselwirkung die Illusion eines Selbst erzeugt. Die empfohlene Einstellung ist daher, jedes Skandha "der Wirklichkeit gemäß mit rechter Weisheit folgendermaßen zu betrachten: ´Dies ist nicht meins, dies bin nicht ich, dies ist nicht mein Selbst´". Als Folge davon "wendet sich der wohlgeschulte edle Jünger, der dies versteht, von den Skandhas ab, wird frei von allen Leidenschaften und wird dadurch vollkomen befreit" (Anatta-Lakkhana Sutra, "Die Merkmale des Nicht-Ich", Samyutta Nikaya 22.59).

Jedoch trat die Skandha-Dekonstruktion des Selbst gegenüber der Lehre des Pratitya-Samutpada (des abhängigen Entstehens) in den Hintergrund, und wurde sogar mit unter diese wichtigste Lehre des Buddhismus zusammengefaßt. Der Buddha betonte, daß jemand der Pratitya-Samutpada versteht, seine Lehren versteht und umgekehrt. Das abhängige Entstehen erklärt unsere Erfahrung durch die Lokalisierung aller Phänomene innerhalb einer Menge von zwölf Faktoren, von denen jeder Faktor durch alle anderen Faktoren bedingt ist und wiederum selbst alle anderen bedingt. Die zwölf Verbindungen dieser Kette (eine spätere scholastische Konstruktion, welche kürzere Ketten integriert, die der Buddha zu verschiedenen Gelegenheiten ausführte) werden traditionellerweise wie folgt verstanden.
[Für eine wissenschaftliche Untersuchung von Pratitya-Samutpada in der früh-buddhistischen Literatur siehe: Govind Chandra Pande, Studies in the Origin of Buddhism (Dehli: Motilal Banarsidas, 2nd ed. 1983), S. 407-442. "Wenn wir einmal von der zentralen Idee absehen, ... , so ist die Formulierung durch Anlagerungen, Zusammenfügungen und Analysen gewachsen. In ihrer voll entwickelten Form ist sie deshalb von einer Aura der Vagheit umgeben, und in Details tauchen sogar Inkonsistenzen auf" (S. 441).]

Die Voraussetzung für den ganzen Prozeß ist (1) Unwissenheit oder Unachtsamkeit, weil wir, in unserem normalen Eifer unsere Wünsche zu befriedigen, etwas in der Erfahrung übersehen. Aufgrund dieser Unwissenheit wirken die anderen Faktoren, einschließlich der (2) Willens-Tendenzen (der vierte der Skandhas) aus dem vorherigen Leben einer Person, welche den physischen Tod überlebt haben und so eine neue Geburt verursachen. Der originale Sanskrit-Ausdruck Samskarah bezieht sich auf den Einfluß, den vorhergegangene mentale Aktivitäten auf unsere willentlichen Handlungen haben. Das Fortwirken dieser Willens-Tendenzen erklärt, wie Wiedergeburt ohne ein permanentes Selbst zustande kommt: der Samskarah überlebt den physischen Tod, um das neue (3) Bewußtsein zu beeinflussen, welches entsteht, wenn eine befruchtete Eizelle sich entwickelt. Die Empfängnis verursacht das Wachstum von (4) Körper-Geist, des Fötus, welcher (5) Sinnes-Organe entwickelt, die den (6) Kontakt zwischen dem jeweiligen Sinnes-Organ und seinem entsprechenden Sinnes-Objekt ermöglichen, was dann zum Entstehen von (7) Empfindungen führt und zum (8) Verlangen nach diesen Empfindungen. Verlangen verursacht (9) Ergreifen oder Anhaften ans Leben ganz allgemein. Dieses Anhaften und Festklammern wird traditionell in vier Typen unterteilt: sich klammern an Vergnügen, an Sichtweisen, an Moral-Regeln oder äußere Riten und an den Glauben an eine Seele oder ein Selbst. Diese Klassifikation ist bemerkenswert, weil sie jeden Wesensunterschied zwischen einem Ergreifen durch die physischen Sinne und dem rein mentalen Anhaften ignoriert; offensichtlich manifestiert sich die gleiche problematische Tendenz bei all diesen vier Typen des Anhaftens. Ergreifen führt zu (10) Werden, d.h. der Tendenz zu einer Wiedergeburt nach dem physischen Tod, und dies verursacht eine (11) weitere Geburt und darum (12) "Verfall und Tod, Trauer, Klagen, Schmerz, Kummer und Verzweiflung". Und so geht der Kreislauf weiter.

Der erstgenannte Faktor, Unwissenheit, wird nicht verstanden als eine "erste Ursache", die irgendwann in der Vergangenheit den ganzen Prozeß initiiert hat. Jeder der zwölf Faktoren bedingt alle anderen, und es gibt im Buddhismus keinerlei Referenz zu irgendeiner ursprünglichen Zeit vor diesem Kreislauf. Sogar (8) Verlangen, das die zweite Edle Wahrheit als die Ursache von Duhkha benennt, wird hier erklärt als bedingt durch (7) Empfindung, welche wiederum bedingt wird durch (6) Kontakt, und so weiter. Als Antwort auf das Problem, wie Wiedergeburt möglich ist ohne eine unsterbliche Seele oder ein Selbst, das wiedergeboren wird, erklärt man die Wiedergeburt als eine Reihe von unpersönlichen Prozessen, die auftreten, ohne daß irgendein Selbst diese Prozesse steuert oder sie erfährt. In einem Pali-Sutra fragt ein Mönch den Buddha, zu wem die Phänomene, die im Pratitya-Samutpada beschrieben werden, gehören und wem sie widerfahren. Der Buddha weist diese Frage als unzutreffend zurück; jeder Faktor bedingt einen anderen Faktor; das ist alles. Die karmischen Ergebnisse einer Handlung werden erfahren, ohne daß da jemand wäre, der das Karma erschuf oder dessen Früchte erfährt, obwohl es eine kausale Verbindung zwischen der Handlung und ihrem Ergebnis gibt.

Eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied, und dies führt hin zur buddhistischen Lösung aus dem Leidenskreislauf. "Durch das vollständige Schwinden und Erlöschen dieser Unwissenheit [der erste Faktor], erlöscht auch der Samskarah [zweiter Faktor]", dessen Erlöschen dann wiederum den dritten Faktor beeinflußt, und so weiter, bis alle zwölf Faktoren erloschen sind. "Auf solche Weise findet das Erlöschen dieser ganzen Leidensanhäufung statt." Diese Formulierung hat sowohl viele Buddhisten als auch westliche Kommentatoren dazu ermutigt, den Buddhismus als nihilistisch anzusehen, wiewohl Sakyamuni Buddha selbst das verneint hat, da eine solche Interpretation die Bedeutung der Tatsache mißversteht, daß es da niemals ein auszulöschendes Selbst gegeben hat.

Diese Darstellung grundlegender Lehren mag wie eine Abschweifung von unserer früheren Diskussion des Mangels und der Rückkehr des Verdrängten erscheinen. Es ist daher notwendig, die Verbindung zwischen solchen theoretischen Konstrukten und der Praxis, die sie untermauern, im Gedächtnis zu behalten. Alle buddhistischen Lehren können als heuristisch angesehen werden, da sie alle auf den essentiellen Punkt zurückverweisen, nämlich unser Duhkha aufzulösen. Wir müssen verstehen, wie die Kette funktioniert, die zu Duhkha führt, um zu lernen, wie man es beenden kann. Wir müssen realisieren, wie gewisse, weitgehend automatische und unbewußte Wege uns selbst in der Welt sehen, sowohl unser Selbst-Gefühl aufrechterhalten, als auch die objektivierte Welt, in der wir uns befinden. Und wir müssen realisieren, daß alles, was auf solche Art konstruiert wurde, auch wieder dekonstruiert werden kann.

Von diesem Gesichtspunkt aus ist das wichtige Problem also nicht, ob die fünf Skandhas der einzige synchrone Weg sind um das Selbst-Gefühl zu analysieren, oder ob die buddhistischen Aussagen zu Karma und Wiedergeburt wahr sind, sondern bedeutsam ist die enge Verbindung zwischen Duhkha und dem Selbst-Gefühl. Unsere Diskussion dieser Verbindung ist jedoch noch nicht vollständig, da sich das buddhistische Verständnis von Pratitya-Samutpada mit der Entwicklung des Mahayana radikal verändert hat. Nagarjunas Interpretation des Pratitya-Samutpada begründete eine "Kopernikanische Revolution" innerhalb des Buddhismus, und der locus classicus dieser Revolution findet sich in seinen Mulamadhyamikakarikas (im folgenden MMK, Candrakirti, 1979). Lassen Sie uns also betrachten, was der MMK über Sunyata und Nirvana sagt.
[Für diese Arbeit wurde die Übersetzung von Mervyn Sprung herangezogen aus Lucid Exposition of the Middle Way (Boulder, CO: Prajna Press, 1979), Candrakirtis klassischer Kommentar zum MMK. Mervyn Sprung übersetzt Sunyata als "Abwesenheit eines Seins in den Dingen".]
[Anmerkung des deutschen Übersetzers: im folgenden wird in eckigen Klammern unter dem Kürzel MMK-WB zusätzlich noch die neue und hervorragende deutsche MMK-Übertragung von B. Weber-Brosamer, D. M. Back, angeführt: Die Philosophie der Leere (Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 1997).]

Der erste Vers des MMK proklamiert dessen durchgängige Kritik an jeglichem Sein: "Zu keiner Zeit und an keinem Ort existieren irgendwelche Dinge, die aus sich selbst entstanden sind, aus anderem, aus beidem oder ohne Grund" (MMK 1.1).
["Nirgends und niemals findet man Dinge, entstanden aus sich, aus anderem, aus sich und anderem, ohne Grund" (MMK-WB 1.1).]

Parallel zu der poststrukturalistischen Radikalisierung der strukturalistischen Behauptungen über Sprache zeigt Nagarjunas Argument einfach noch deutlicher die Implikationen des Pratitya-Samutpada. Abhängiges Entstehen ist keine Lehre über kausale Relationen zwischen Dingen, weil die gegenseitige Wechselwirkung dieser zwölf Faktoren bedeutet, daß sie keine wirklichen Dinge sind. Keines der zwölf Phänomene - welche allumfassend verstanden werden - ist selbst-existent, weil jedes mit den Einflüssen aller anderen behaftet ist. Daß kein Selbst existiert, ist die Bedeutung von sunya und seines Substantivs Sunyata; diese beiden Worte sind bekannterweise schwer zu übersetzen, werden aber normalerweise als "leer" und "Leere" wiedergegeben. Nagarjuna warnt umsichtig, daß Sunyata ein heuristisches Konzept ist: "Sunyata ist ein wegweisender und kein kognitiver Begriff und setzt die Alltagswelt voraus" (MMK 24.18).
["Das Entstehen in gegenseitiger Abhängigkeit, dies ist es was wir Leerheit nennen. Das ist (aber nur) ein abhängiger Begriff; gerade sie (die Leerheit) bildet den mittleren Weg" (MMK-WB 24.18).]
Das Konzept der Leere setzt den Alltag voraus, weil es abhängig vom Begriff der Dinge ist, die es widerlegt, womit es sich selbst gleichzeitig auch widerlegt. Nagarjuna warnte, daß Sunyata wie eine Schlange sei, die am falschen Ende angefaßt, tödlich sein kann: "Die geistigen Sieger haben erklärt, daß Sunyata die Erschöpfung aller Theorien und Sichtweisen ist; jene, für welche Sunyata selbst eine Theorie ist, haben sie für unheilbar erklärt" (MMK 24.11).
["Die falsch aufgefaßte Leerheit richtet den, der von schwacher Einsicht ist, zugrunde - wie eine schlecht ergriffene Schlange oder falsch angewandte Magie" (MMK-WB 24.11).]

Der Zweck von Sunyata ist, die Selbst-Existenz der Dinge zu dekonstruieren. Nagarjuna wendet sich an die wesentlichen philosophischen Theorien seiner Zeit, doch sein wirkliches Ziel ist jene unbewußte, automatisierte Metaphysik, getarnt als: die Welt in der wir leben. Wenn Philosophie lediglich die Hauptbeschäftigung der Akademiker wäre, könnte man sie ignorieren, aber wir haben in dieser Angelegenheit keine Wahl, weil wir alle Philosophen sind. Die fundamentalen Kategorien des Alltags sind für uns selbst-existente / selbst-daseiende Dinge, die entstehen, sich verändern und schließlich aufhören zu sein; um die Beziehungen zwischen diesen Dingen zu erklären, müssen auch die Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität herangezogen werden. Das wichtigste und problematischste dieser angeblich selbst-existenten Dinge ist natürlich das Selbst: die buddhistische Sichtweise der gegenseitig voneinander abhängigen Faktoren ist somit diametral entgegengesetzt zu der kartesischen Ansicht eines autonomen, selbst-begründeten Bewußtseins. Und der Träger dieser Metaphysik des gesunden Menschenverstandes, welcher diese kreiert und aufrechterhält, ist die Sprache, die uns einen Satz Substantive (selbst-existente Dinge) präsentiert, die zeitliche und kausale Prädikate haben (entstehen, verändern und enden).

Kann unser Duhkha in Begriffen von Sunyata und Pratitya-Samutpada erklärt werden? Das Ich-Selbst ist irreführend, weil es, ebenso wie alles andere, eine temporäre Manifestation ist, die aus der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen den zwölf Faktoren entsteht, sich aber dennoch getrennt fühlt von dieser Kette und vom Rest der Welt. Die grundlegende Schwierigkeit ist, daß insoweit wie ich mich getrennt fühle (d.h. als ein autonomes, selbst-existentes Bewußtsein), ich mich auch unbehaglich fühle, weil eine illusorische Wahrnehmung von Trennung unvermeidlich unsicher ist. Es ist die unvermeidliche Spur des Nichts in meinem "leeren" (da nicht wirklich selbst-existenten) Selbst-Gefühl, die als Mangel-Gefühl erfahren wird. Als Reaktion konzentriert sich das Selbst-Gefühl darauf, zu versuchen sich auf die eine oder andere symbolische Weise selbst-existent zu machen. Die tragische Ironie ist, daß die Wege, auf denen wir versuchen dies zu tun, nicht erfolgreich sein können, weil ein Selbst-Gefühl niemals die Spur des Mangels vertreiben kann, die das Selbst-Gefühl ja insoweit konstituiert, als es illusorisch ist; wohingegen wir im wichtigsten Sinne schon selbst-existent sind, weil die unendliche Menge von unterschiedlichen Spuren, die jeden von uns konstituieren, das gesamten Universum ausmachen. "Die Selbst-Existenz eines Buddha ist die Selbst-Existenz dieses Kosmos. Der Buddha ist ohne eine selbst-existente Natur; der Kosmos ist ebenfalls ohne eine selbst-existente Natur "(MMK 22.16).
["Das Eigensein des Tathagata ist dasselbe wie das Eigensein dieser Welt der Lebenden; wie also der Tathagata ohne Eigensein ist, so ist auch diese Welt ohne Eigensein" (MMK-WB 22.16).]
Was Nagarjuna hier über den Buddha sagt, ist gleichermaßen wahr für jeden von uns, und in der Tat für alles und jedes; mit dem einzigen Unterschied, daß ein Buddha dies versteht.

Doch wenn wir nun darum kämpfen ein Buddha zu werden, so mißverstehen wir die Lehren des Buddha. Statt dessen ist jene Gelassenheit, die wir suchen, "das zur Ruhe kommen aller Arten und Weisen Dinge zu ergreifen, das Stillwerden der benannten Dinge" (sarvopalambhopasamaprapancopasamah) (MMK 25.24).
["die Beruhigung aller Wahrnehmung, die Beruhigung der Entfaltung" (MMK-WB 25.24).]
Nagarjunas wichtigster Kommentator, Candrakirti, erklärt diesen Vers folgendermaßen: "das wirkliche zur Ruhe kommen, das Aufhören von Wahrnehmungen als Zeichen aller benannten Dinge, genau dies ist Nirvana.... Wenn die sprachliche Aktivität endet, so sind die benannten Dinge in Ruhe; und das Ende der Funktion der diskursiven Gedanken ist die letztendliche Gelassenheit" (Candrakirti, 1979, S. 262). Dabei besteht das Problem nicht nur darin, daß Sprache als ein Filter wirkt, der die Natur der Dinge verdeckt, sondern Namen werden eben benutzt, um Erscheinungen in jene selbst-existenten Dinge zu objektivieren, die wir als Bücher, Tische, Bäume, dich und mich wahrnehmen. Das heißt also, daß die objektive Welt der materiellen Dinge, die kausal in Raum und Zeit wechselwirken, durch und durch metaphysisch ist. Es ist diese Metaphysik, verborgen als die Realität des gesunden Menschenverstandes, die mich insoweit leiden läßt, wie ich mich als ein selbst-existentes Wesen in der Zeit verstehe, ein Wesen das aber dennoch sterben wird.

Es ist möglich, unser Duhkha zu beenden, weil das zur Ruhe kommen im Benennen von Wahrnehmungen als selbst-existenten Objekten die automatisierte Innen-Außen Dualität zwischen unserem Selbst-Gefühl und der "objektiven" Alltags-Welt dekonstruieren kann. Da diese Welt ebenso verschiedenartig ist wie sie voller Spuren ist - wie der textuelle Diskurs, den Derrida analysiert [zu Derridas textueller Dekonstruktion siehe z.B. Positions (1981) und Margins of Philosophy (1982), beide bei University of Chicago Press] - so ist der buddhistische Ansatz, jene Differenzen und Verschiebungen zu nutzen, um die objektivierte Welt zu dekonstruieren, einschließlich unserer selbst, da wir Subjekte ja als erstes objektiviert werden. Wenn nur Spuren von Spuren existieren, was passiert dann, wenn wir mit unserem Versuch aufhören, diese schwer faßbaren Spuren in selbst-präsente Dinge einzusperren? "Wenn eine anhaftende Wahrnehmung anwesend ist (upadane), dann erschafft der Wahrnehmende das Sein. Wenn keine anhaftende Wahrnehmung anwesend ist, dann wird er befreit und es wird kein Sein geben" (MMK 26.7).
["Indem das Ergreifen existiert, entwickelt sich das Werden des Ergreifenden. Denn: Hätte man kein Ergreifen, wäre man befreit und es gäbe kein Werden mehr" (MMK-WB 26.7).]

Dies erklärt also, wie die buddhistischen Lehren die Selbst-Existenz der Dinge dekonstruieren, aber es genügt noch nicht, um zu verstehen, wie damit nun unser Mangel-Gefühl dekonstruiert wird. Der letzte Abschnitt wird diese Dekonstruktion ansprechen, indem wir betrachten, wie der fundamentalste aller Dualismen aufgelöst werden kann - der Dualismus zwischen meinem unbegründeten Gefühl des Seins und dem dieses Gefühl bedrohenden Nichtseins oder Nichts.

Den Geist aufscheinen lassen

Inzwischen ist klar geworden, daß unsere problematischste Dualität aus buddhistischer Sichtweise nicht Leben/Tod ist, sondern Selbst/Nicht-Selbst. In psychologischer Sprache ausgedrückt bedeutet dies, daß unsere primäre Verdrängung nicht die Angst vor dem Tod ist - welche ja das gefürchtete Ereignis immer noch auf Distanz hält, indem sie es in die Zukunft projiziert - sondern das Selbst-Gefühl, das sein erahntes Nicht-Sein jetzt verdrängt; und dieser Prozeß, so habe ich oben argumentiert, wird uns bewußt als ein Mangel-Gefühl, das unser Selbst-Gefühl überschattet. Diese spezielle Polarität beeinflußt große Teile unseres Denkens. Ein gutes Beispiel ist Paul Tillich´s The Courage to Be (1952). Tillich zufolge ist die ontologische Angst die Angst vor unserem letztlichen Nicht-Sein, die Angst vor unserer Unfähigkeit unser eigenes Sein zu beschützen. Da Tillich glaubt, daß diese Angst nicht aufgelöst werden kann, ist seine theologische Lösung, daß wir durch die Kraft des Seins akzeptiert seien, was uns den Mut gibt, das Sein trotz der Bedrohung des Nichtseins zu bejahen. Gott ist "die Selbst-Bejahung des Seins, das sich gegen das Nichtsein durchsetzt".

Vielleicht ist es ja beruhigend zu wissen, daß Gott nicht auf der Seite des Nicht-Seins steht - was wohl der Grund dafür ist, warum Nichtsein im Englischen nicht groß geschrieben wird - aber der buddhistische Ansatz ist ein anderer, so wie es der im siebten Jahrhundert in China lebende Ch'an-Meister Hsüan-chüeh von Yung-chia ausdrückte: "Sein ist nicht Sein. Nicht-Sein ist nicht Nicht-Sein. Verfehle diese Regel um Haaresbreite und du gehst tausend Meilen daneben" (Aitken, unveröffentlicht). Solche konzeptuellen Paradoxien mögen für unser Leben nicht besonders relevant erscheinen, doch die Spekulationen der Theologen und Metaphysiker stellen nur die abstrakteste Version eines Spiels dar, das tatsächlich unseren Kern berührt, wenn sich nämlich die Grundhaftigkeit oder Grundlosigkeit dieses Kerns als die grundlegende Frage herausstellt. Wie bei der Materie und Antimaterie der Quantenphysik stellt sich Nicht-Sein (erfahren als Mangel) als der Schatten des Seins (Selbst) heraus. Beide entstehen zusammen, in Abhängigkeit voneinander, und somit sollten sie auch gemeinsam verschwinden können, indem sie ineinander zurückkollabieren - was nicht das Nichts, das wir fürchten, zurücklassen kann (da dies ja einer der beiden Pole ist), aber was dann ...?

Im Samyutta Nikaya (35.85) erklärt Sakyamuni, daß die Welt leer ist von einem Selbst und etwas zu einem Selbst gehörigen, . . . darum wird gesagt, die Welt ist leer. Was ist diese Leere? Er sagt, daß dies gerade die sechs Sinnesorgane Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper und Geist sind, dazu ihre sechs Sinnesobjekte und die sechs korrespondierenden Arten von Sinnesbewußtsein. Doch der Buddha beschreibt diese gleichen achtzehn indriyas auch als Alles: "Wer auch immer, ihr Mönche, sagen wollte: ´Weist dies Alles zurück, ich will ein anderes Alles behaupten´ - es wäre von ihm doch nur ein bloßes Gerede. ... Und warum ist das so? Weil es eben nicht möglich ist, so etwas zu finden". Der Buddha formuliert dann eine Lehre zur Überwindung des Alles: "Das Auge muß aufgegeben werden, visuelle Objekte müssen aufgegeben werden, Augen-Bewußtsein muß aufgegeben werden, Augen-Kontakt muß aufgegeben werden. Und jene angenehmen, schmerzlichen oder neutralen Empfindungen, die beim Augen-Kontakt aufsteigen, auch sie müssen auch aufgegeben werden." Und so weiter mit allen anderen Sinnen (Samyutta Nikaya 35.23-26). Da der Buddha nun gerade gesagt hat, daß diese achtzehn indriyas alles umfassen, erscheint eine solche Lehre sonderbar: es gibt nichts anderes, was man werden könnte, nichts anderes, dem man sich zuwenden könnte. Die Lösung ist so offensichtlich, daß wir sie leicht übersehen können: es geht einfach darum, die sunya, die "leere" Natur dieser Phänomene zu realisieren, ein Ansatz den das Mahayana fortentwickelt hat.

Ebenso wie in der Psychotherapie schließt auch die buddhistische Antwort auf die bipolare Dualität das Anerkennen der verleugneten Seite ein. Wenn es der Tod ist, wovor sich das Selbst-Gefühl fürchtet, so ist die Lösung, das Selbst-Gefühl sterben zu lassen. Wenn es das Nichts (no-thing-ness) ist, wovor ich Angst habe (d.h. die verdrängte Intuition, daß das "Ich" nur ein Konstrukt ist, anstatt autonom und selbstexistent zu sein), so ist der beste Weg diese Furcht zu lösen, zu Nichts werden. Der im zwölften Jahrhundert in Japan lebende Zen-Meister Dogen faßt diesen Prozeß wie folgt zusammen:

Den buddhistischen Weg zu studieren bedeutet das Selbst zu studieren. Das Selbst zu studieren bedeutet das Selbst zu vergessen. Das Selbst zu vergessen bedeutet durch alle Dinge erweckt zu werden. Wenn du durch alle Dinge erweckt wirst, fallen dein Körper und Geist weg, ebenso wie der Körper und Geist der anderen. Keine Spur der Realisation bleibt zurück und diese Spurlosigkeit setzt sich ohne Ende fort (Dogen, in Tanahashi, 1985, S. 70).

Indem wir uns selbst "vergessen", verlieren wir unser Gefühl der Getrenntheit und erkennen, daß wir nichts anderes sind als die Welt. Meditation bedeutet zu erlernen, wie ich Nichts werde, indem ich lerne das Selbst-Gefühl zu vergessen, und das geschieht eben dann, wenn ich von meiner Meditations-Übung absorbiert werde. Wenn das Selbst-Gefühl ein Resultat des Versuchs des Bewußtseins ist, sich selbst zu reflektieren, um sich selbst zu ergreifen, dann ist eine solche Meditationspraxis tatsächlich sinnvoll als eine Übung der De-Reflektion. Das Bewußtsein verlernt den Versuch, sich selbst zu ergreifen, zu real-isieren und zu objektivieren. Erleuchtung im Sinne des Buddhismus tritt dann ein, wenn die gewöhnliche, automatische Reflexivität des Bewußtseins verstummt, was als ein Loslassen, ein aus der Existenz heraus und in die Leere fallen, erfahren wird. "Die Menschen fürchten sich davor, ihren Verstand zu vergessen, sie fürchten, in die Leere zu fallen, ohne daß irgendetwas ihren Fall aufhalten könnte. Sie wissen nicht, daß die Leere nicht wirklich leer ist, sondern das Reich des wirklichen Dharma" (Huangpo, Blofeld, 1958, S. 41). Wenn ich nicht länger danach strebe mich selbst durch Dinge real zu machen, dann finde ich mich durch sie "erweckt", sagt Dogen. Dieser Vorgang impliziert, daß das von uns gefürchtete Nichts nicht wirklich Nichts ist, sondern einfach die Perspektive eines Selbst-Gefühls, das Angst davor hat, seinen Halt an sich selbst zu verlieren. Aus der Sicht des Buddhismus führt das Loslassen meines Selbst und Verschmelzen mit diesem Nichts (no-thing-ness) zu etwas anderem: wenn das Bewußtsein mit dem Versuch aufhört, seinen eigenen Schwanz zu fangen, werde ich Nichts (no-thing) und entdecke das ich Alles bin - oder, genauer, daß ich Alles sein kann.

Ein Beispiel aus der Zen Meditation mag hier hilfreich sein. In der Zen-Linie, mit welcher ich vertraut bin, wird ein Anfänger-Koan, wie Joshus Mu, mehr oder weniger wie ein Mantra behandelt. Indem man all seine mentale Energie in das "muuu ..." gibt (im Geist während des Ausatmens wiederholt), wird das Selbst-Gefühl durch das Loslassen der mentalen Prozesse, die es aufrechterhalten, unterminiert. Zu Beginn einer solchen Praxis versucht man sich auf das "muuu ..." zu konzentrieren, wird aber durch auftauchende andere Gedanken, Gefühle, Erinnerungen, Wünsche, usw., abgelenkt. Ein späteres, fokussierteres Stadium ist, wenn man sich auf das "muuu ..." konzentrieren kann, ohne es zu verlieren: "muuu ..." hält andere Gedanken, usw., effektiv fern. Das Stadium, "in dem Innen und Außen natürlich verschmelzen", tritt dann auf, wenn es nicht mehr die Empfindung eines "Ich" gibt, das einen objektiven Ton wiederholt; es gibt dann nur noch "muuu ...." Dieses Stadium wird manchmal so beschrieben, daß "muuu ..." eben "muuu ..." macht: es ist "muuu ..." das sitzt, geht, ißt, und so weiter.

Manchmal führt diese Praxis zu einem geistigen Zustand, der beschrieben worden ist als ein Hängen über einem Abgrund. "Mit Ausnahme gelegentlicher Gefühle der Unruhe und Verzweiflung, ist das wie der Tod selbst" (Hakuin, in Suzuki, 1956, S. 148). Die Lösung ist es, sich selbst vollständig in das "muuu ..." hineinzuwerfen:

An der Ecke des Kliffs laß tapfer los. Entschlossen und mutig wirf dich selbst in den Abgrund. Nur nach dem Tod wirst du wieder zum Leben erwachen! (Po-shan, in Chang, 1959).

An diesem Punkt kann der Lehrer helfen, indem er den letzten Faden durchschneidet: eine unerwartete Handlung, wie ein Schlag oder ein Schrei oder sogar einige wenige leise Worte können den Schüler aufschrecken, so daß er losläßt. "Plötzlich findet er seinen Geist und Körper aus der Existenz herausgefallen, zusammen mit dem Koan. Dies ist bekannt als ´deinen Halt loslassen´" (Hakuin, in Suzuki, 1956, S. 148).
[Mehr zu diesem Prozeß siehe Yasutani-Roshi´s "Kommentar zum Koan Mu" in P. Kapleau, ed., The Three Pillars of Zen (Tokyo:Weatherhill, 1966), 71-82.]
Eine klassische Zen-Geschichte erzählt, wie ein Schüler durch den Klang eines an einen Bambus schlagenden Kiesels erleuchtet wurde. Wenn die Praxis reif ist, kann der Schock eines unerwarteten Sinneseindrucks helfen, zum innersten Kern des eigenen illusorischen Seins-Gefühls durchzubrechen - das heißt, zu einer nondualen Erfahrung.

Ist dies Sein oder Nichts? Grundlosigkeit oder Grundhaftigkeit? Wenn jedes Glied des Pratitya-Samutpada durch alle anderen bedingt ist, dann bedeutet vollständig grundlos zu werden auch vollständig grundhaft zu werden, nicht in irgendeinem Punkt, sondern in dem ganzen Netzwerk der Wechselwirkungen, welche die Welt konstituieren. Die letztliche Ironie meines Kampfes um einen festen Grund für mich ist, daß dieser Kampf keinen Erfolg haben kann, weil ich schon in der Totalität begründet bin. Der Buddhismus kommt zu dem Ergebnis, daß ich grundlos und unbegründbar insoweit bin, als ich mich fälschlicherweise von der Welt getrennt fühle; und ich war schon immer vollständig begründet insoweit, als die Welt ich ist und ich die Welt bin. Mit dieser Zusammenfaltung wird das Nichts (no-thing ) in meinem Innersten von einem Mangel-Gefühl in eine Gelassenheit transformiert, die deshalb unerschütterlich ist, weil nichts da ist, was erschüttert werden kann. "Wenn weder Sein noch Nicht-Sein dem Geist dargeboten werden, dann wird, mangels jeglicher anderen Möglichkeit, das was ohne Stütze ist, ruhig werden" (Santideva).
[Bodhicaryavatara 9.35, s.a. MMK 7.16: "Alles was aufgrund des abhängigen Entstehens existiert, ist letztlich Stille."]

Wie löst das Gesagte das Problem des Verlangens, unser hin und her zwischen Frustration und Langeweile? Ein Bewußtsein, das versucht sich selbst zu begründen, indem es sich auf irgendetwas fixiert, verurteilt sich selbst zu fortwährender Unzufriedenheit, da die Unbeständigkeit aller Dinge eben bedeutet, daß kein fester Halt gefunden werden kann. Aber da es unser Mangel ist, der uns dazu veranlaßt, einen solchen festen Halt zu suchen, erlaubt das Ende des Mangels einen Wechsel in der Perspektive. Die Lösung besteht in einem anderen Weg das Problem zu erfahren: in Hegelschen Worten ist dies die "frei-bewegliche Variable", die immer irgendeine endliche Festlegung hat, aber nicht an eine bestimmte gebunden ist. Die schlechte Unendlichkeit des Mangels verwandelt sich in die gute Unendlichkeit einer Variablen, die keiner Sache bedarf. In buddhistischer Sprache transformiert dies die Entfremdung eines reflexiven Selbst-Gefühls, das ständig versucht sich selbst zu fixieren, in der Freiheit eines "leeren" Geistes, der alles werden kann, weil er nicht irgendetwas werden muß.

Das Astasahasrika Prajnaparamita Sutra beginnt mit einer Beschreibung dieser guten Unendlichkeit:

Wir können keine Weisheit auffinden, keine höchste Vollkommenheit,
Keinen Bodhisattva und auch keine Vorstellung von Erleuchtung.
Wenn er dies erfährt und darüber nicht verwirrt oder ängstlich wird,
So geht ein Bodhisattva den Weg in der Weisheit des Tathagata.
Nirgendwo in Form, Empfindung, Wahrnehmung, Willen und Bewußtsein
[den fünf Skandhas]
Finden die Bodhisattvas einen Platz zum Niederlassen.
Sie wandern heimatlos, Dharmas binden sie nicht,
noch ergreifen sie diese (Conze, 1973, 1:5-7, S.9).

Für den Buddhismus ist das Problem des Begehrens gelöst, wenn kein Verlangen nach Sein mich mehr dazu zwingt, irgendetwas zu ergreifen und zu versuchen mich darin niederzulassen, wenn ich also frei bin es zu werden. Die buddhistische Lösung des Problems des Lebens ist daher sehr einfach: das "bong!" einer Tempelglocke, das "tock!" eines gegen einen Bambus aufschlagenden Kiesels, die Blüten an einem Baum im Frühling, um einige Zen-Beispiele zu nennen. Natürlich haben wir die ganze Zeit versucht zu einem Objekt zu werden, doch auf eine uns selbst schadende Weise, zwanghaft nach unseren eigenen Objektivierungen greifend, um uns selbst zu stabilisieren. Aber ich kann nicht zu etwas werden, indem ich danach greife. Das verstärkt nur das illusionäre Gefühl der Getrenntheit zwischen dem Ergriffenen und dem Ergreifenden. Gemäß dem Buddhismus ist der einzige Weg, wie ich zu einem Phänomen werden kann, zu realisieren, daß ich es schon immer war. Wenn von dem Objekt überhaupt nichts benötigt wird, um meinen Mangel zu füllen, dann kann dieses Objekt einfach das sein, was es ist - die nachhallende Tempelglocke, etc. Und dies ist nun nicht länger frustrierend, weil es jetzt in meinem Inneren keinen Mangel mehr gibt, den ich als einen Mangel meiner Welt wahrnehmen muß.

Wenn ich aber das Objekt bin, ist es sinnlos, dies als ein Objekt zu verstehen. Wenn es kein Selbst-Gefühl im Innern gibt, dann kann es auch kein Außen geben. Im "Sokushinzebutsu" Kapitel des Shobogenzo zitiert Dogen den chinesischen Ch´an-Meister Yang-Shan: der Geist ist "Berge, Flüsse, Erde, Sonne, Mond und Sterne". Dieser Geist ist nicht irgendein transzendentes Absolutes. Er ist nichts anderes als dein Geist und mein Geist, wenn er realisiert wird als eine frei-bewegliche Variable, die an keine bestimmte Festlegung gebunden ist. Solch ein Geist ist ab-solut in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes, d.h. unkonditioniert. Meditations-Übungen dekonditionieren den Geist von seiner Tendenz, sich selbst durch das Kreisen in vertrauten Bahnen abzusichern, und dadurch erwächst dem Geist die Freiheit alles zu werden. Die meist zitierte Zeile des bekanntesten aller Mahayana Sutras, des Diamant-Sutra, faßt all dies in einem einzigen Satz zusammen: "Laß deinen Geist aufscheinen ohne ihn irgendwo festzumachen."

aus:

Loy, D. R. : Das Vermeiden der Leere:
Der Mangel eines Selbst in Psychotherapie und Buddhismus.
Version 1.00h vom 26.06.2001.
-- URL: http://www.mb-schiekel.de/loy8d.htm . -- [Stichwort].