Teilbeitrag zu »Die falsche Identität« von Allen Watson, gechrieben 2001
Der nächste falsche Weg ist das genaue Gegenteil des ersten. Wenn der Versuch, das Ego zu verleugnen, nicht funktioniert, denken wir, was ist dann das Gegenteil? Und so versuchen wir vielleicht, das Ego sich abreagieren zu lassen. Fühlen wir uns ärgerlich über jemanden, lassen wir dieses Gefühl einfach heraus. Wir geraten in Rage, schreien die Person an oder greifen sie an. Oder wir schreien unsere Wut für uns allein in ein Kissen.
Es mag ein bestimmter Nutzen in dieser Handlungsweise liegen. Der mögliche Nutzeffekt aus dem Herauslassen unseres Ärgers hat drei Aspekte: zunächst ist dies ein ausgezeichneter Weg, um aus der Verdrängung auszubrechen. Zweitens kann es vorübergehend das Ego befriedigen und die Gefühle beruhigen, so daß wir ruhiger weiterarbeiten können. Drittens machen wir uns frei von unserer Angst und unseren Schuldgefühlen unserem Ego gegenüber.
Nach Jahren der Unterdrückung und der Verdrängung kann es gut und notwendig sein, uns der Reaktionen des Ego, die wir versteckt und verdrängt haben, bewußt zu werden. Wenn wir unsere Wut vergraben haben, gibt uns das Herauslassen nur einen erschreckenden Beweis dafür, wie tief und weitreichend sie ist. Doch obwohl es zeitweilig hilfreich sein kann, löst es nicht unser Problem. Es ist tatsächlich nur ein Weg, das Problem bewußt zu machen.
Durch Herauslassen des Ärgers können wir unserem Geist einen zeitweiligen Aufschub vor der Unruhe, die dieser Ärger erzeugt, geben. Wir nehmen damit einigen Druck weg und kommen zu einer ruhigeren Betrachtungsweise. Auch dies ist lediglich eine Vorbereitung für den eigentlichen Prozeß der Selbstheilung.
Der eigentliche Grund für die Verleugnung und Unterdrückung unserer Gefühle ist die Tatsache, daß wir Angst davor haben und uns schuldig dafür fühlen. Das Ausdrücken dieser Gefühle kann ein sehr positives Anzeichen dafür sein, daß wir nun bereit sind, sie anzunehmen und verantwortlich für sie zu sein, sie ohne Angst und Schuld anzuschauen.
Unser Ego auszuagieren heißt jedoch, es zu verstärken anstatt es verschwinden zu lassen. Das Ausleben von Ärger ist ganz eindeutig eine Form von Angriff. Und Angriff ist die Lebensgrundlage des Egos. Viele von uns haben sich, nachdem sie ihren Ärger herausgelassen haben, richtig gut gefühlt, vielleicht sogar befreit. Es fühlt sich wirklich gut an, wenn die Spannung nachläßt; und manchmal haben wir, ganz buchstäblich, den Eindruck, daß ein riesiges Gewicht von unseren Schultern genommen ist. Dieses Gewicht drückt die Sklaverei durch unsere Verleugnung aus, die festen Bänder, die unseren Ärger festgehalten haben. Die Bänder zu zerreißen, fühlt sich gut an, in der Tat. Aber was fühlt sich gut, wenn wir unsere Angriffsgedanken herauslassen? Unser Ego. Diese »guten« Gefühle sind nur eine andere Ebene der Ego-Reaktion. Es ist das »gute« Gefühl des Eroberers, das »gute« Gefühl von jemandem, der dem Feind einen entscheidenden Schlag versetzt hat.
Das Ego auszuleben kann hilfreich sein, wenn es als einleitender Schritt zur tatsächlichen Heilung verstanden wird. Die drei Vorteile, die ich erwähnt habe, - Verdrängung rückgängig machen, unseren Geist beruhigen und Angst und Schuld loslassen - sind allesamt vorbereitend für den wirklichen Heilungsprozeß, der folgendes umfaßt: ehrlich, ruhig und ohne Schuld unsere Egos zu beobachten und sie der Vergebung zu überbringen.