Das Angebot

Gregor

Von Gregor Geißmann

Dieser Text basiert auf der Geschichte der 5 Katzen, einer geheimen Übungsanleitung im Schwertfechten aus dem Japan des 17. Jahrhunderts, gefunden in »Karlfried Graf Dürckheim, Wunderbare Katze und andere Zen-Texte, Otto Wilhelm Barth Verlag«.


»Ausser Spesen nichts gewesen«, ging es mir durch den Kopf. In der ganzen vergangenen Woche hatten wir an der Angebotspräsentation gearbeitet, Ideen zusammengetragen und wieder verworfen, prägnante grafische Darstellungen für die Folien entworfen, verschiedene Ansätze zur Erläuterung der Vorgehensweise diskutiert und die vermeintlich wichtigsten Meilensteine aus Sicht des Kunden herausgestellt. Die Präsentation war für unsere Begriffe ganz gut gelaufen. Trotzdem hatten wir den Eindruck, das die Botschaft irgendwie nicht angekommen war. Der Draht war nicht da, es fehlte die Resonanz.

Vier Mitbewerber hatte der Kunde eingeladen, um ihre Angebote zu präsentieren. Wir kannten uns alle von diversen Informationsveranstaltungen, Präsentationen oder Messen. Es waren eigentlich seit Jahren dieselben Leute, manchmal wechselten die Visitenkarten, aber es tauchten immer dieselben Gesichter auf. Wir kannten unsere Stärken und Schwächen, wussten, wer welche Schwerpunkte setzte und in der Regel konnte jeder einschätzen, wer bei welcher Ausschreibung die Favoritenrolle spielte.

Den Vertreter des renommierten Hamburger Beratungshauses kannte ich schon seit Jahren. Sein Vater hatte das Unternehmen aufgebaut, eine charismatische Persönlichkeit, mit der ich mal am Rande eines Vortrags ins Gespräch kam. Sein Sohn leitete die Geschäftsstelle in Köln, war stets tadellos gekleidet, legte Wert auf eine artikulierte Ausdrucksweise und hatte eindeutige Stärken bei der Darstellung größerer Zusammenhänge. Wir waren uns schon häufig bei diversen Veranstaltungen begegnet und hatten auch bei einigen Angeboten zusammengearbeitet. Er legte stets Wert auf klare Strukturierung und möglichst einfache Darstellungen.

Der ältere Herr aus Bonn war Mitinhaber seines Unternehmens. Ich kannte ihn nicht näher, wir hatten noch nie zusammengearbeitet. Auf mich machte er immer einen zurückhaltenden, fast »weichen« Eindruck. Er sprach ziemlich leise, aber was er sagte, hatte Hand und Fuß.

Der ehemalige Kollege aus Düsseldorf hatte früher bei uns eine Abteilung geleitet und war vor zwei Jahren zu dem neuen Unternehmen gewechselt, wo er eine Geschäftsstelle übernahm. Wir kannten uns sehr gut aus den verschiedenen gemeinsamen Angebotserstellungen und hatten uns bei unterschiedlichen Projekten gegenseitig unterstützt. Er war an fernöstlichen Kampfsportarten interessiert und praktizierte seit Jahren Zen. In privaten Gesprächen versuchte er uns immer zu überzeugen, dass es allein auf die Geisteskraft ankam. Als Beispiel nannte er oft den Bruchtest beim Tae Kwon Do: »Erst zerbrichst du den Ziegelstein im Kopf, der anschließende Schlag ist nur noch die zwangsläufig daraus folgende Handlung.«

Der Dame aus Troidorf war ich bisher nur selten begegnet. Sie machte eigentlich keinen besonderen Eindruck auf mich, ihr Unternehmen beteiligte sich bisher selten an den Ausschreibungen in unserer Branche. Wir hatten in der letzten Zeit den Eindruck, dass sie verstärkt bei den einschlägigen Kundenveranstaltungen auftrat. Offensichtlich wollte ihr Unternehmen in der Branche Marktanteile gewinnen. Man sagte von ihr, dass sie irgendwie Interessen an Esoterik hatte, und das genügte, um sie im internen Sprachgebrauch als »Tante McEso« zu bezeichnen. Um so erstaunlicher war die Tatsache, dass ihr Angebot den Zuschlag bekommen hatte. Eigentlich waren wir ziemlich sicher, dass unserem Unternehmen diesmal die Favoritenrolle zukam. Die Gespräche im Vorfeld waren vielversprechend gelaufen, die Signale hatten wir, wie wir glaubten, richtig interpretiert. Nun gut, der Gesprächspartner auf Kundenseite war neu, aber unsere Referenzen sprachen eindeutig für uns. Und nun ging dieser Auftrag an einen Aussenseiter.

Wie üblich saßen wir nach geschlagener Schlacht noch in der Vorhalle in der gemütlichen Sesselgruppe zusammen und tauschten uns aus. Die Mitbewerber waren nun keine Mitbewerber mehr, man kannte sich ja. Wir liessen unsere Vorstellungen zu dem neuen Mann beim Kunden Revue passieren, erläuterten die Probleme und Fallstricke bei dem kommenden Projekt und loteten aus, ob für die kommende Durchführung vielleicht der eine oder andere Spezialist aus dem eigenen Hause im Projekt untergebracht werden könnte. Und seltsamerweise brachten alle das Gefühl zum Ausdruck, dass heute irgend etwas anders gelaufen war. Das Gespräch wurde persönlicher.

»Ich stamme aus einer alten hanseatischen Kaufmannsfamilie«, sagte der Mann aus dem Hamburger Unternehmen. »Mein Vater hat mich schon früh zu seinen Präsentationen und Kundenkontakten als Assistenten mitgenommen. Sein Präsentationsstil gerade bei Angeboten war sehr erfolgreich, da habe ich eine Menge gelernt. Er hat mir immer gesagt, das Verkaufsgespräch mit dem Kunden ist die wichtigste Lerneinrichtung, um ein erfolgreicher Geschäftsmann zu werden, und hat mir seine erfolgreichsten Methoden und Techniken am praktischen Beispiel gezeigt. Anschließend sind wir die jeweilige Veranstaltung noch einmal durchgegangen und er hat mir gezeigt, worauf ich achten muss. Außerdem hatte ich die Möglichkeit, mich von den renommiertesten Verkaufstrainern ausbilden zu lassen. Meine Auslandstätigkeit hat mich ausserdem mit verschiedenen Mentalitäten vertraut gemacht, ich dachte daher, ich kenne die psychologischen Finessen und weiß jetzt auf Grund meiner jahrelangen praktischen Erfahrungen, wie ein Verkaufsgespräch verläuft und worauf ich bei Präsentationen achten muss. Nachdem die heutige Präsentation mit unseren einschlägigen Spezialisten optimal vorbereitet wurde, war ich mir meiner Sache ziemlich sicher. Aber heute funktionierte einfach nichts, selbst die zuverlässigsten Tricks und Techniken sind nicht angekommen. Es gab einfach keine Resonanz. Das habe ich noch nie erlebt, ich empfinde es schon fast als die größte Niederlage meiner Laufbahn.«

Die Dame aus Troisdorf lächelte und sagte: »Sie haben sich bisher auf nichts weiter als die Technik konzentriert und diese sicherlich gut gelernt. Sie sind ständig mit der Frage beschäftigt: Wie kann ich gewinnen? Sie kleben am Ziel! Die Methoden und Techniken der Spitzenleute sind in der Regel einfach, aber sie sind nur ein Aspekt ihres Weges. Die meisten konzentrieren sich nur noch auf die Techniken und Methoden. Es ist vieles erfunden worden in dem Stil 'wenn du dies und das tust, kommt dies und jenes dabei heraus.' Was aber kommt wirklich dabei heraus? Geschicklichkeit, vorübergehender Erfolg, Gewinn und Verlust, nichts weiter. Niemand denkt mehr an den Einen Weg, an die Reise ohne Entfernung. Die neue Linie könnte lauten: Wir setzen auf ein totes Pferd, aber unser Pferd ist grösser, schneller und preiswerter als alle anderen toten Pferde unserer Mitbewerber. Also entstand unter Aufbietung von viel Klugheit der Wettbewerb der Methoden bis zur Erschöpfung, und dann kommt man nicht weiter. Das ist immer so, wenn man an Methoden und Erfolg denkt und dabei ausschliesslich Klugheit und erlernte Kenntnisse einsetzt. Klugheit ist eine Funktion des Geistes, aber da sie nicht in den Dienst des Einen Weges gestellt wird und allein auf Geschicklichkeit beim Gewinnen abzielt, wird sie zum Wegweiser in die Irre und das Errungene ist wertlos.«

Mein ehemaliger Kollege ergriff das Wort: »Im Verkaufsgespräch und bei Präsentationen kommt es meiner Ansicht nach nur auf den Geist an. Daher habe ich stets nur die Kraft des Geistes durch Meditation und die tägliche Praxis trainiert und ihn 'stahlhart' und frei gemacht. Bin ich bei meinen Kunden, ist mein Geist stets vollkommen präsent, mir entgeht nicht die geringste Kleinigkeit. Ich habe die Situation von Anfang an voll im Griff, der Erfolg ist quasi vorweggenommen und sicher. Und erst dann handle ich! Dabei geschieht die Handlung unbewußt, wie von selbst, ganz der Lage entsprechend. Einfach aus dem Bewußtsein des Sieges heraus. Ich richte mich nach der Energie meines Gegenübers und regiere auf jede Wendung. Um Techniken und Methoden als solche kümmere ich mich überhaupt nicht. Das kommt von selbst. Aber heute hatten alle meine Bemühungen keinen Erfolg, dieser Kunde entzog sich einfach jedem Manöver von mir, er war einfach nicht greifbar!«

»Worum Sie sich bemüht haben, ist wohl das Wirken, das aus dem Reinen Geist kommt, aber was Sie gewonnen haben, ist nur psychische Kraft. Allein schon die Tatsache, dass diese Kraft, mit der Sie gewinnen wollen, bewußt ist, wirkt dem Sieg entgegen. Ihr Ich ist im Spiel. Wenn der andere stärker ist als Sie, was dann? Wollen Sie den Gegner besiegen mit dem Übergewicht Ihrer Kraft, stellt er Ihnen die seine entgegen. Denken Sie wirklich, alleine stark zu sein und alle anderen schwach? Wie soll man sich verhalten, wenn es etwas gibt, das man beim besten Willen nicht mit dem Übergewicht seiner eigenen Kraft besiegen kann? Das ist die entscheidende Frage! Was Sie als stahlhart und frei bezeichnen, ist nicht die Kraft aus Ihrem Selbst, sondern nur ein Abglanz davon. Es ist Ihr eigenes Ich, also ein Schatten Ihres Selbst. Es gibt sich zwar wie das eigentliche Selbst, aber in Wirklichkeit ist es etwas völlig anderes. Ihr Geist gewinnt seine Kraft nur unter bestimmten Bedingungen. Ihre Kraft und die Kraft des Selbst haben verschiedenen Ursprung, daher sind sie auch im Wirken unterschiedlich. Was aber ist der Geist, den man beweisen soll, wenn einem etwas gegenübersteht, das von keiner bedingten Geisteskraft besiegt werden kann? Wenn Ihr Gegenüber auf nichts angewiesen ist, sein Ziel vergisst, den Erfolg vergisst, frei ist von Sieg und Niederlage, dann ist sein Wille wie Stahl. Und wie könnten Sie ihn mit einer Geisteskraft besiegen, die Sie sich selbst zuschreiben?«

Da nickte der ältere Herr aus Bonn zustimmend und meinte: »Ja, das sehe ich genauso. Diese psychische Kraft mag sehr stark sein, ich kenne viele gute Leute, die damit arbeiten und sich darin geübt haben. Aber sie ist 'Etwas', sie hat eine Form, sonst wäre sie ja nicht bewußt und könnte auch nicht geübt werden. Und jede Form, sei sie auch noch so klein, ist faßbar. Daher konzentriere ich mich nur auf mein eigentliches Selbst, auf den Urgrund meines Seins. Ich kümmere mich nicht um die Kraft, mit der ich andere geistig überwältigen kann und ich versuche auch gar nicht erst, meine Kunden durch irgendwelche Techniken zu überlisten. Ich lasse mich auf meinen Gegenüber ein, werde eins mit ihm und setze ihm nicht den geringsten Widerstand entgegen. Stelle ich dabei fest, dass der Andere stärker ist als ich, so gebe ich einfach nach und folge seinem Willen. Ich fange gewissermaßen die harten Kieselsteine in einem weichen Vorhang auf. Dadurch hat mein Gegenüber keinerlei Ansatzpunkte, mich zu greifen, seine Stärke verpufft ins Leere oder wird sanft abgefangen und für mein Ziel eingesetzt. Aber heute hat das nicht funktioniert! Es war einfach keine Stärke da, nichts Greifbares, der Kunde ging einfach nicht auf das Spiel ein!«

»Was Sie als Eingehen auf den Gegenüber oder die Einswerdung bezeichnen, kommt nicht aus dem Einen Selbst oder dem Reinen Geist. Es ist künstlich, eine gemachte Vereinigung, ein Trick. Ihnen geht es darum, bewußt die Stärke Ihres Gegenübers für sich zu nutzen. Sobald Ihnen das aber bewußt ist, und sei es auch nur in den verstecktesten Winkeln Ihres Geistes, merkt der andere das ja. Sie verfolgen ein Ziel, Sie haben eine Absicht, und tun aber so, als wenn es nicht so wäre. Das stürzt Ihren Geist nur in Verwirrung, denn Sie wollen gewinnen und sagen Ihrem Geist, dass Sie es nicht wollen. Ihr Handeln wird dadurch gestört. Jede bewußte Absicht, und sei sie noch so verborgen, schränkt die Möglichkeiten des Reinen Geistes ein und stört die spontane Bewegung des Einen Selbst. Welche wunderbaren Wirkungen wollen Sie da noch erwarten? Nur, wenn Sie sich mit Ihrem Handeln dem Reinen Geist überlassen, wenn Sie sich nicht einmischen, wenn Sie nicht selbst handeln und Pläne machen, haben Sie keine greifbare Form mehr. Dann kann nichts auf dieser Welt als Gegenform auftreten und es gibt nichts, was Ihnen widerstehen kann.«

»Auch wenn ich den Eindruck erweckt haben sollte, aber ich bin nicht der Meinung, dass alles, was Sie bisher gelernt und perfektioniert haben, sinnlos ist. Alles kann Bestandteil der Reise ohne Entfernung sein. Alles kann Ausdruck des Reinen Geistes sein. Techniken, Methoden, psychische Kraft und das Eine Selbst können ein und dasselbe sein und sich im Handeln ausdrücken. Wenn der Geist frei wird von seinen selbst auferlegten Beschränkungen und sich mit dem Reinen Geist verbindet, kann er niemals verlieren. Aber eines ist wichtig: nicht der leiseste Gedanke an ein Ichbewußtsein darf im Spiel sein. Und wenn auch nur ein flüchtiger Gedanke an ein individuelles Ziel auftaucht, wird das Handeln, das aus dem Reinen Geist kommt, gestört. Fällt der Handelnde weg, das Ego, diese Sammlung von Antworten auf die Frage 'wer bin ich' oder 'was bin ich', kann sich Ihnen nichts widersetzen.«

»Kann man das üben? Lassen Sie jegliche Absicht fallen, üben Sie sich in der Absichtslosigkeit, konzentrieren Sie sich auf das Nicht-Tun, statt sich Gedanken darüber zu machen, was sie tun sollten. Was allerdings nicht heissen soll, nichts zu tun! Nicht-Tun ist weder Tun noch Nichtstun. Mischen sie sich einfach nicht ein. Sie sind vorbereitet, sind es immer gewesen. Es gibt kein Ziel zu erreichen.«

»Glauben sie aber jetzt nicht, dass das, was ich hier sage, der Weisheit letzter Schluss ist. Ein ehemaliger Kollege von mir war mal im Vertrieb in einer anderen Abteilung eingesetzt. Er machte keinen besonders dynamischen Eindruck, und ein besonderes Charisma war auch nicht an ihm zu entdecken. Er hatte auch keine besonderen Kenntnisse oder Fähigkeiten. Niemand hatte ihn je in Eile oder hektisch gesehen. Aber er erreichte immer seine Vertriebsziele. Selbst in den absurdesten Zeiten, als die Geschäftsleitung die Ziele über die Vernunftgrenze hinaus anzog und die meisten Vertriebsleute von uns am Ende des Jahres finanzielle Einbußen hatten, er erreichte seine Ziele wie immer. Ich fragte ihn einmal, wie er das machte, aber bekam keine zufriedenstellende Antwort. Ich fragte ihn noch mehrmals, aber es kam nichts dabei heraus. Eigentlich war es aber nicht so, dass er nicht antworten wollte, er konnte einfach nicht antworten. Das begriff ich aber erst sehr viel später. Er hatte sich selbst vollkommen vergessen, die völlige Absichtslosigkeit erreicht. Er tat einfach das in jedem Augenblick Notwendige. Er siegte, ohne zu kämpfen.«