Spiritualität und Glaube

Von Gregor Geißmann


Ein paar Gedanken zur Wirtschaftsreligion

Spiritualität wird häufig mit Religion in Verbindung gebracht. In der Tat, in allen formalen Religionen gibt es eine spirituelle Ausprägung, die man als den direkten Weg zu Gott oder dem Einen bezeichnen könnte. Im Christentum sind es die mystischen Richtungen, im Islam der Sufismus und im Buddhismus gibt es den Zen-Buddhismus, um nur einige zu nennen. Aber der Umkehrschluss ist falsch: Spiritualität setzt kein formales religiöses Glaubensgebäude voraus. Sie müssen keiner Religion angehören oder an ein »höheres Wesen« glauben, damit die Beschäftigung mit Spiritualität Früchte trägt. Und Sie müssen umgekehrt weder Ihre Religionszugehörigkeit noch Ihre Glaubensaussagen über Bord werfen, wenn Sie sich mit Spiritualität beschäftigen möchten.

Betrachten Sie einmal die Annahmen, Überzeugungen und Glaubessätze, die Sie mit dem, was Sie täglich beruflich tun, verbinden. Das »Wirtschaftlichkeitsprinzip« ist zu einer Grundlage unserer westlichen Gesellschaft geworden, und als Angehöriger des Managements sind Sie ein Vertreter dieses Prinzips. Da lohnt es sich durchaus einmal, die eigene Einstellung zu diesem Prinzip zu untersuchen. Dabei werden Sie vermutlich auf Aussagen stoßen wie »Meine Leistung bestimmt, wie gut ich materiell ausgestattet bin« oder »Um besser zu leben, muss ich erfolgreich(er) sein« oder »Der berufliche Aufstieg und meine berufliche Entwicklung ist Voraussetzung für meine Zufriedenheit«. Sie werden nahezu täglich mit Aussagen zum Wirtschaftlichkeitsprinzip konfrontiert, ob Sie nun den Fernseher einschalten oder sich mit Kunden, Kollegen oder Mitarbeitern unterhalten. Und die meisten dieser Aussagen werden Sie wahrscheinlich nicht in Frage stellen, denn sie werden nicht explizit erwähnt, sondern bilden die Basis für das, was tatsächlich gesagt wird. Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass dieses Wirtschaftlichkeitsprinzip im Laufe der letzten Jahrzehnte eine Art religiösen Status bekommen hat. Es bestimmt, welche Lebensziele wir uns setzen, welche Voraussetzungen notwendig sind, um glücklich sein zu können und wie ein erfülltes Leben auszusehen hat.

Da liegt es fast auf der Hand, dass es eine spirituelle Ausprägung dieser neuen »Wirtschaftsreligion« geben kann. Spiritualität befasst sich mit unmittelbarer geistiger Erkenntnis. Verbinden Sie dies mit dem vom Wirtschaftlichkeitsprinzip geprägten Denksystem, stossen Sie unweigerlich auf die spirituelle Richtung der Erfolgsreligion unseres Jahrhunderts.

Vielleicht finden Sie diese Analogie etwas gewagt, da Religion und Wirtschaftsleben Ihrer Meinung nach völlig verschiedene Ziele verfolgt. Möglicherweise ziehen Sie auch eine strikte Trennung zwischen dem »Seelenheil« und dem »weltlichen Heil« vor. Aber gibt es diese Trennung wirklich? Wie viel Zeit verwenden Sie täglich oder wöchentlich für Ihr Seelenheil? Und welchen Aufwand betreiben Sie, um den Anforderungen des weltlichen Heils zu genügen? Spiritualität verbindet diese beiden Welten miteinander und hebt die Notwendigkeit auf, sich tief im Inneren zu zerreißen. Denn es ist auf Dauer nicht möglich, in unterschiedlichen Welten zu leben. Genauso wenig ist es möglich, eine dieser beiden wahrgenommenen Welten zu ignorieren und sich ausschließlich auf die »andere« Welt zu konzentrieren. Aus einer solchen künstlichen Trennung entstehen Konflikte, die eines Tages nicht mehr übersehen werden können. Vielleicht taucht plötzlich die Frage nach dem Sinn Ihres Tuns auf, vielleicht sind Sie auf einmal unzufrieden mit dem Erreichten, vielleicht ändern sich allmählich Ihre Wertvorstellungen. Unsere Leidensfähigkeit mag groß sein, aber sie ist nicht grenzenlos. Und dies wird zum Wendepunkt, zum Beginn der Suche nach dem »dritten Weg«, der die Trennung aufhebt und das scheinbar Unvereinbare miteinander verbindet.

Diese Suche kann nicht scheitern, das Ziel steht fest. Sie können nichts falsch machen. Diese Suche geschieht mit dem Mitteln und Methoden, die Sie bereits kennen. Sie brauchen keine neuen Konzepte und Gedankengebäude, es ist alles schon da. Es gibt keine Voraussetzungen, die Sie erfüllen müssen, Sie brauchen sich nicht vorzubereiten. Denn es ist die Suche nach dem Offensichtlichen, nach DEM, was immer schon IST. Spiritualität im Management nutzt für diese Suche genau das, was tagtäglich geschieht, um die Schranken zu entfernen, die Sie am Gewahr sein des Offensichtlichen hindern.

Machen Sie sich auf den Weg.