Wachstumsziele

Von Gregor Geißmann

“Wer nicht wächst, meine Damen und Herren, hat keine Chance, sich in Zukunft am Markt zu behaupten. Kein Unternehmen kann es sich leisten, nur das zu bewahren, was es erreicht hat. Wir müssen weiterkommen. Und dazu ist Wachstum ein Muss, Wachstum unter gleichzeitigem Erhalt der Profitabilität!”

Die Worte des Vorstandsvorsitzenden erfüllten den Raum bis zum letzten Platz. Ein Gefühl von Dringlichkeit schwebte über den Zuhörern. Hier trug jemand seine innersten Überzeugungen vor.

“Unsere Branche ist die aufregendste und spannenste Industrie des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts. Die Informations- und Kommunikationstechnologie verändert die Art, wie Menschen denken, wie sie handeln und wie sie arbeiten. Vor zwanzig Jahren war die mobile Kommunikation ein Traum, heute ist der Traum wahr geworden. Im Zusammenhang mit der weltweiten Vernetzung durch das Internet ist dies der Wachstumsmotor des kommenden Jahrhunderts. Die neuen Technologien bringen uns Möglichkeiten, die innerhalb kürzester Zeiträume zu neuem Nachfrageverhalten und damit verbunden zu neuen Wertschöpfungsprozessen führen werden. Unsere Kunden denken darüber nach, wie sie ihre Produkte mit Hilfe der jetzt verfügbaren Technologien weltweit auf neuen Wegen zu ihren vorhandenen und potentiellen Kunden bringen können. Daher ist es unsere Aufgabe und Herausforderung als Beratungshaus, über neue Anwendungen nachzudenken, um die Probleme unserer Kunden zu lösen. Unsere Kunden brauchen Partner, die ihre Visionen und Träume verstehen, konzeptionell untermauern und konsequent umsetzen. Und das global. Weltweit.”

Diese Informations- und Marketingveranstaltungen des Unternehmens waren immer gut besucht. Ich schaute mich um. Der Saal fasste etwa fünfhundert Sitzplätze. In den ersten Reihen konnte man einige Vertreter der Großaktionäre und der größten Kunden des Unternehmens ausmachen. Rund drei Viertel der Sitzplätze waren belegt, hauptsächlich von Managementvertretern bekannter Unternehmen und Kunden sowie Kollegen.

“Nicht den Schwachen bestraft das Leben, sondern den Langsamen. Jeden Tag muss das Ergebnis und der Erfolg neu erkämpft werden. Unser Unternehmen ist keine Kuschelecke, wir wollen und müssen uns den Ansprüchen des Marktes und unserer Kunden offensiv und konstruktiv stellen.”

Plötzlich sah ich sie und sofort fiel mir wieder das Gespräch im Anschluss an die letzte Angebotspräsentation wieder ein, die so anders verlaufen war als die vorangegangenen Präsentationen. Und mir fiel auch wieder dieser Begriff ein, der mir seitdem immer wieder durch den Kopf ging: Absichtslosigkeit. Vor allem die kläglichen Versuche, mich dieser Absichtslosigkeit zu nähern und sie zu üben, waren sofort präsent.

Sie war gerade im Begriff, den Saal zu verlassen. Ich stand auf und folgte ihr. Die Reden wurden über Monitore auch in den Vorraum übertragen, man konnte also nichts verpassen.

“Die Visionen der Zukunft scheinen an Ihnen vorbei zu gehen, habe ich das Gefühl.” Sie drehte sich überrascht um. Als sie mich erkannte, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. “Nein, aber ich habe in einer halben Stunde einen Kundentermin, und da ist eine kurze Pause nach so vielen Visionen und Zielen einfach angebracht.”

Wir unterhielten uns eine Weile über die aufregendste und spannenste Industrie des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts, während im Hintergrund die Rede des Vorsitzenden sich dem Ende näherte:

“Die neuen Technologien bringen uns das Internet in jeden Winkel der Welt, ohne Beschränkungen durch nationale und geografische Grenzen. Wir werden und wollen uns darauf einstellen, unseren Kunden die besten Anwendungen dieser neuen Technologien an jedem Ort verfügbar zu machen. Es ist ein Aufbruch zu neuen Ufern, die über ausgetretene Pfade nicht erreichbar sind.”

“Wie verträgt sich denn die von Ihnen angesprochene Absichtslosigkeit mit dieser Aufbruchstimmung?” fragte ich.

Sie lächelte: “Ich sehe, sie erinnern sich noch an das letzte Gespräch.”

“Ja. Sie sagten damals, das könne man üben. Also habe ich mich hingesetzt und versucht, alle Absichten loszulassen. Aber irgendwie fand ich das unbefriedigend.”

“Warum haben Sie das gemacht?”

“Na, ich wollte die Absichtslosigkeit üben, das Nicht-Tun, wie Sie gesagt haben. Schließlich finde ich es äußerst attraktiv, meine Ziele ohne Anstrengung zu erreichen,” lachte ich.

“Also hatten Sie die Absicht, keine Absicht mehr zu haben. Mit der Absicht, Ihre Ziele zu erreichen. Hm, wie klingt das? Und was haben Sie dazu getan? Sie haben vermutlich irgendetwas losgelassen oder zumindest versucht, es loszulassen. Kann ganz schön anstrengend sein, dieses Loslassen, nicht wahr?”

“Das kann man wohl sagen! Ich habe versucht, meine Gedanken loszulassen. Je mehr ich es versuchte, desto mehr wuselte es in meinem Kopf herum. Manchmal funktionierte es, ein Gedanke verschwand einfach, und im nächsten Augenblick kamen zehn neue dafür.”

“Ja, das Loslassen funktioniert gut, wie jede Methode. Erinnern Sie sich, was ich über Methoden gesagt habe? Der Wettstreit der Methoden führt zu Geschicklichkeit und vorübergehendem Erfolg. Was haben Sie damit gewonnen? Diese Methode des Loslassens ist eine ‚gut funktionierende‘ Methode. Taucht etwas auf, ein Problem, ein Gedanke, eine Absicht, lassen Sie es einfach los. Je mehr Sie dies praktizieren, desto mehr werden Sie feststellen, dass die ‚Dinge‘ verschwinden, die Sie loslassen. Es erscheint wie ein Wunder. Aber desto mehr hartnäckige Gedanken und Probleme tauchen auf.”

Ich zog meine Augenbrauen erstaunt in die Höhe: “Sie meinen, je mehr ich loslasse, desto mehr Gelegenheiten tauchen auf, die ich loslassen muss?”

“Das Schlüsselwort ist das Wörtchen ‚muss‘. Sie glauben, etwas erreichen zu müssen, und wenden eine Methode an, mit der Absicht, dieses Ziel zu erreichen. Nehmen Sie an, Sie sind ein Meister des Loslassens geworden, kein Problem kann Sie erschrecken, denn Sie lassen es einfach los. Sie werden erfolgreich damit sein. Aber die Absicht übt einen Zwang aus. Denn erst muss es ein Ziel, eine Absicht geben, sonst kämen Sie ja gar nicht auf die Idee, eine Methode anzuwenden, um dieses Ziel zu erreichen. Und die ‚zu überwindenden Hindernisse‘ auf dem Weg zu diesem Ziel, die Probleme, müssen Sie dann durch eine Methode wie das Loslassen beseitigen. Durch die Absicht schaffen Sie also Probleme! Und durch die Methode bekommen die Probleme einen spezifischen Charakter. Es werden Probleme sein, die Sie loslassen müssen, es werden Situationen sein, in denen Sie das Gefühl haben, nur loslassen zu müssen und nur noch loslassen zu können, ohne andere Lösungsmöglichkeiten für diese Probleme. Es sind unlösbare Probleme. Denn Sie sind ja erfolgreicher Meister im Loslassen!”

“Sie glauben also, dass eine Methode erst die Gelegenheiten schafft, sie anzuwenden?”

“Die Methode ist ziemlich unwichtig. Es gibt eine unendliche Vielzahl von Methoden. Schauen Sie sich die ganzen Management-by-Irgendwas-Methoden an, jedes Jahr erscheinen zehn neue, und irgendein Guru schreibt ein bestechendes Buch darüber, die Seminare boomen, der ultimative Weg zu mehr Wachstum, Leistungssteigerung, Globalisierung und Fiscal Fitness ist gefunden.”

Sie hielt kurz inne und schaute mich schelmisch von der Seite an. “Schließlich haben Sie doch gerade gehört, was Ihr Boss von Ihnen erwartet. Und wenn ich mich recht entsinne, sprach er auch von einer neuen strategischen Ausrichtung. Eine Synthese aus Tradition und Neuausrichtung nannte er das, glaube ich. Also werden Sie die neuen Methoden in Ihrem Unternehmen bald kennenlernen. Bis wieder ein neuer Weg auftaucht. Die Methoden bestimmen nur die Art der Probleme, die sich zwischen das Ziel und dem ‚Ist‘ stellen. Dies gilt für Managementmethoden wie für persönliche Methoden.

Das Ziel, die Absicht ist entscheidend. Denken Sie an den Kollegen, von dem ich gesprochen habe. Er tat einfach das, was erforderlich war, ohne Absicht und ohne ein Ziel erreichen zu müssen. Er war ähnlich wie wir in ein Zielgeflecht aus Globalisierung, Wachstum und Herausforderungen eingebunden. Es gab keine Probleme für ihn. Und auch keine Methode. Daher verstand er meine Frage auch nicht, wie er es schaffte, die Vertriebsziele zu erreichen. Er tat es eben. Das heißt nicht, dass ihm dies alles egal war. Er sah es einfach nicht als Problem an.

Wenn Sie Marktführer werden wollen, wachsen müssen, sich dem Share Holders Value verschrieben haben, werden Sie eine Methode finden, dies zu erreichen. Und auch die spezifischen Probleme dazu werden Sie finden. Und wenn Sie im persönlichen Bereich glauben, sich entwickeln zu müssen, leistungsstärker werden zu müssen, mehr Geld, Ansehen, Erfolg haben zu müssen: es wird Ihnen gelingen. Es hängt von Ihrer tiefen inneren Überzeugung ab. Oder eben von den vorherrschenden Überzeugungen des Unternehmens. Die Frage ist einfach: wollen Sie das wirklich?”

Ich dachte einen Augenblick lang nach. “Hm, daraus folgere ich nun, dass meine tiefen inneren Überzeugungen der Bezugsrahmen für die Probleme sind, die ich sehe. Also muss ich mich mit den Überzeugungen und Glaubenssätzen beschäftigen, um sie gegebenenfalls zu ändern. Und damit verschwinden auch die Probleme.”

“Auch dafür werden Sie eine Menge Techniken und Methoden finden. Sie können sich Ihre Überzeugungen in den jeweiligen Situationen anschauen und in Frage stellen, sie können andere mentale Techniken benutzen oder Affirmationen einsetzen, die ‚alte Glaubenssätze‘ ersetzen sollen, sie können durch Meditation üben, Überzeugungen kommen und gehen zu lassen. Es ist gleichgültig, sie werden Erfolg haben, nicht wegen der Methode, sondern um des Zieles willen. Vermutlich werden Sie dadurch ein Meister des Zweifels, da Sie jede Überzeugung erst einmal durch die Mühle Ihrer Methode drehen.”

“Aber Sie sagten doch gerade, dass meine inneren und vermutlich unbewußten tiefen Überzeugungen und Glaubenssätze im direkten Zusammenhang mit den Problemen stehen, die ich quasi selbst erzeuge. Um also die Probleme zu lösen, muss ich doch meine Überzeugungen entsprechend ändern! Es ist nichts anderes als in einem Unternehmen. Ich richte, vereinfacht ausgedrückt, die Mitarbeiter auf eine Vision aus, leite daraus eine Strategie ab, die vom Management durch operative Ziele und methodische Vorgaben umgesetzt wird und allen Mitarbeitern hilft, gemäß der Vision zu handeln. Die Hauptarbeit in diesem Prozess ist es, die Vision ´rüberzubringen, damit alle an einem Strang ziehen. Und das heißt, Überzeugungsarbeit zu leisten. Bei Methoden wie dem Business Reengineering hat man ja gerade die Überzeugungsarbeit vernachlässigt, sonst hätte man bei der Neuausrichtung des Unternehmens gemerkt, dass die Problemlösung quasi automatisch durch ein gemeinsames Verständnis erfolgt.”

Sie schaute mir für einen kurzen Augenblick intensiv in die Augen: “Was ist denn eine Überzeugung?”

“Nun, bin ich von etwas überzeugt, dann glaube ich, dass es die Wahrheit ist.” Ich war etwas verunsichert.

“Wenn Sie also davon überzeugt sind, Ihre Überzeugungen ändern oder die Mitarbeiter auf eine Vision ausrichten zu müssen, dann schaffen Sie ganz einfach Zwänge. Nämlich den Zwang, etwas verändern zu müssen. Bei Ihnen und bei Ihren Mitarbeitern. Und das ist ja auch wieder eine Überzeugung und damit die Wahrheit, wie Sie sagen. Also werden die auftauchenden Probleme von der Art sein, dass sie sich nur durch die Änderung von Überzeugungen lösen lassen. Sie haben eine neue Methode gefunden, unlösbare Probleme zu schafffen und sie durch Änderung von Überzeugungen wieder zu beseitigen! Eine Menge Arbeit liegt vor Ihnen, wie Sie selbst gesagt haben. Es erinnert mich an das Laufrad, in dem sich der Hamster meiner Tochter so gerne verausgabt.”

“Jetzt kommen wir aber in einen Teufelskreis. Sie sagen also, Probleme entstehen nur durch Überzeugungen. Und wenn ich versuche, diese Probleme zu lösen, entstehen neue Probleme entsprechend der Methode, mit der ich gerade arbeite. Ein sehr pessimistischer Ansatz, finden Sie nicht?”

“Wieso Ansatz? Wofür soll es ein Ansatz sein? Sie haben immer noch Problemlösungstrategien zum Erreichen von Zielen im Kopf. In der Tat, unter diesem Blickwinkel ist es nicht nur ein pessimistischer Ansatz, sondern ein unmöglicher. Denn er stellt alle Ihre Strategien in Frage. Ob Teufelskreis oder Laufrad: es entsteht viel Bewegung unter großer Anstrengung, aber Laufräder bewegen sich in Wirklichkeit keinen Millimeter. Und Teufelskreise sind ja auch ein schönes Symbol für Aktivismus und vorübergehenden Erfolg. Es ist wie der Hund, der seinem eigenen Schwanz hinterherjagt. Sie kommen nirgendwo an und suchen ständig nach dem richtigen Weg.

Was ist der richtige Weg? Es gibt ihn nicht. Lassen Sie alle Wege verschwinden. Das ist mit Absichtslosigkeit gemeint. Aber laufen Sie nicht in die Falle, eine Methode daraus zu machen, die Methode der Nicht-Methode zum Beispiel. Dadurch werden Sie nur zum Kämpfer gegen alle Methoden, ohne zu merken, dass Sie mitten im Laufrad stecken.

Jeder neue Weg ist immer wieder das alte Spiel. Bis der Hamster erschöpft aus dem Laufrad fällt. Und vielleicht stellt er wieder die Frage: ‚Was muss ich tun?‘ Es wird jemand kommen, der ihm sagt, wie schön das Laufen ist. Er muss nur seine Lauftechnik ändern. Und in aller Regel beginnt er aufs Neue, das Ziel muss erreicht werden. Aber vielleicht kommt er bei irgendeinem Fall aus dem Laufrad auf die Idee: ‚Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.‘ Vielleicht gelangt er an den Punkt, an dem er gar nichts mehr tun kann. ‚Es ist eine unlösbare Aufgabe!‘, sagt er möglicherweise. Und vielleicht verschwindet dann die Absicht, etwas ändern zu wollen oder zu müssen. Hingabe durch Erschöpfung. Aber das muss nicht sein, eigentlich ist diese Anstrengung völlig unnötig. In den meisten Fällen aber ist es sehr anstrengend zu erkennen, dass keinerlei Anstrengung erforderlich ist. Es ist wie mit der Absicht, Absichtslosigkeit zu üben.”

“Soll das heißen, ich kann gar nichts tun?” Meine Verwirrung war mir wohl anzumerken.

Sie lächelte nur: “Sie brauchen nichts zu tun. Und das ist ein erheblicher Unterschied.”